Utopie, or not to be
Weggabelung. Krisenzeiten wie die jetzige lassen Utopien sprießen. Fast scheint es, als hätte die Menschheit ohne radikale Lösungen kein langes Dasein mehr. Superreiche wie Elon Musk sehen ihr Heil auf dem Mars. Die Gegenutopie heißt schlicht Verzicht auf
Prothesen-Lebewesen sind die Voraussetzung einer neuen Kosmonautik.
Stefan Selke Techniker, Soziologe und Autor
Galaktische Fantasien sind wieder in. Die Werbung und
der Buchmarkt sind voll davon, es gibt neue Staffeln von „Star Wars“und im Radio läuft noch immer „Walking on the Moon“von Police und David Bowies „Space Oddity“.
Das ist kein Zufall. Je begrenzter das irdische Dasein empfunden wird, desto attraktiver werden Fluchtkonzepte
– sprich: Utopien. Millionen junger Menschen würden sich für Leben im
All begeistern, schreibt der deutsche Soziologe Stefan Selke im kürzlich erschienenen Buch „Wunschland“(Ullstein-Verlag). Der bekennende Raumfahrtfan, der an der Hochschule Furtwangen im Schwarzwald lehrt,
meint so wie der amerikanische Physiker Michio Kaku, „entweder wir verlassen die Erde, oder wir verschwinden“.
Utopie oder not to be, das ist inzwischen die Frage, frei nach Shakespeares „Hamlet“(„To be – or not to be ...!“). Sie treibt die NASA zu Rekordhöhenflügen an ebenso wie die privaten Astronautikunternehmen der schwerreichen Konkurrenten Jeff Bezos (Amazon/Blue Origin), Elon Musk (Tesla/SpaceX) und Richard Branson (Virgin Galactic). Sie alle arbeiten fieberhaft für den Traum der ersten bemannten Marslandung. Diese erscheint immer mehr als realisierbare
Utopie und als Beginn einer neuen Zeitrechnung. Bei dem Wettrennen wollen Russland, China, Indien und Australien nicht zurückstehen.
Sogar Österreich mischt mit. So hat das Österreichische Weltraum Forum (ÖWF), das eng mit der Europäischen
Raumfahrtagentur ESA kooperiert, vor eineinhalb Jahren in der israelischen Negev-Wüste Marsbedingungen simuliert. Die NASA hat ab Ende 2025 wieder bemannte Mondlandungen angekündigt. Wobei ihr der Mond nur als Zwischenstation für Marskolonien dient. Die US-Raumfahrtbehörde in Houston hat hierfür bereits Recyclingpläne entwickelt. Auch Rohstoffe locken. Die NASA schätzt, dass auf erdnahen Asteroiden etwa 42 Billionen Tonnen verwertbare Rohstoffe zu holen sind. Gesetze zu deren Abbau gibt es bereits, das erste hat US-Präsident Barack Obama 2015 durchs Kapitol gebracht.
Als die wahren Menschheitsretter aber gelten nicht die hellen Köpfe bei der NASA, sondern immer mehr die privaten Weltall-Missionare Bezos, Musk und Branson. Als ob sie es ausgemacht hätten, sind die Rivalen im Vorjahr nacheinander zu ihren ersten bemannten Raumfahrten
gestartet. Alle drei sind gut gegangen. Nun überbieten sich die angehenden Fürsten der Galaxie mit Mitfahrangeboten. Branson bietet einen Platz im „Spaceship Two“für 450.000 Dollar an; in Bezos „New Shepard“hingegen darf nur einsteigen, wer 28 Millionen
Dollar hinblättert – pro zehn Minuten, versteht sich. „Massentourismus im
All wird bald kein leeres Versprechen mehr sein. Wer kann, bietet Weltraumtrips an“, meint Autor Selke. Selbst kosmische Bestattungen sind keine
Vision mehr. Im Web werden Space Funerals ab 700 Euro angeboten: für ein Gramm Asche in einer Dose von der Größe einer Knopfzellenbatterie. Sieben Gramm kosten 4000 Euro.
Utopien sind zu allen Zeiten Ausdruck größter Unzufriedenheit und Existenzangst gewesen. Schon Platon versuchte in seinem Dialog „Politeia“, der mehr als
2400 Jahre alten Mutter aller verschriftlichten Utopien, einen Idealstaat zu entwerfen. Das griechische „ou tópos“heißt wörtlich Nicht-Ort.
Auch der englische Vordenker Thomas Morus entwarf sein optimales Staatswesen „Utopia“1516 als insulares Fantasiereich. Die Faszination kosmischer
Utopien wurzelt in den Himmel-Konzepten, wie man sie in fast allen Religionen – nicht nur den theistischen – antrifft. Das Entrückungsgeschehen am Ende des irdischen Lebens à la Christi Himmelfahrt nimmt viel vom Weltalltraum vorweg.
Bei Elon Musk etwa ist das Jenseits ein multiplanetarischer Raum: „Die Lebensspanne der menschlichen Zivilisation ist dann größer, wenn wir uns in eine multiplanetarische Spezies verwandeln, anstatt nur auf einen Planeten angewiesen zu sein“, meint er. Jeff Bezos träumt Ähnliches: „Die Enkelkinder unserer Enkelkinder werden keinen endlichen Planeten Erde mehr erleben, sondern kosmisch denken
und leben.“
Hier kommt die nächste Utopie aus dem Silicon Valley ins Spiel – der transhumane Mensch. Oder ist es überhaupt noch ein Mensch? Auf dem Mars erwarten Menschen eine um zwei Drittel geringere Gravitation, weiters Muskel- und Knochenschwund, Herz-Kreislauf-Probleme und eine Atmosphäre, die zu 96 Prozent aus Kohlendioxid besteht. Die rote Farbe der Marsoberfläche stammt
von Eisenoxid-Staub, der Lungenkrankheiten auslösen und Elektronik unbrauchbar machen kann. Sandstürme dunkeln die Marsoberfläche monatelang ab, was die Versorgung mit Solarenergie erheblich erschwert. Strahlungen und das Salz Perchlorat im Marsboden bergen ein Krebsrisiko. Schon die Reise ist lebensgefährlich. Dazu kommen die enormen Kosten:
Wer sie und andere Mühen nicht scheut, will natürlich möglichst lange
was davon haben. Dafür braucht es einen neuen Menschentyp: Menschen
und Maschinen wachsen zusammen, so die Idee des Transhumanismus.
Dessen Hauptproponent ist der deutsch-amerikanische Milliardär Peter Thiel (PayPal, Facebook etc.). Der Chef von Sebastian Kurz und enge Vertraute der Weltraumpioniere Musk und Bezos sowie Partner von Google verfolgt die Idee der technologischen
Verbesserung des biologisch begrenzten Menschen als pure Notwendigkeit
Transhumanismus ist eine gefährliche Frankenstein-Technologie.
Bernhard Ungericht Wirtschaftsethiker
für erfolgreiche Weltraumexplorationen. „Wer Raumfahrt will, meint damit letztlich auch eine neue Mutation. Prothesen-Lebewesen sind die Voraussetzung einer neuen Kosmonautik, bei der menschliches Leben die komfortable Zone der Vertrautheit verlässt“, bringt es Stefan Selke in „Wunschland“auf den Punkt.
Eugenik und Züchtung unsterblicher Supermenschen als unausweichlich für Leben im All?
Für den Grazer Wirtschaftsethiker Bernhard Ungericht ist das der Gipfel menschlicher Maßlosigkeit. In seinem Buch „Immer-mehr und Nie-genug!“(Metropolis-Verlag)
bezeichnet er Brainhacking und Transhumanismus als gefährliche ElitenIdeologie des Silicon Valley, als Frankenstein-Spielzeug, ja als die Religion des 21. Jahrhunderts. „Die Forscher sind keine verrückten Frankensteins. Sie sind nur das Spiegelbild einer Ökonomie, in der alles verwirklicht wird,
was Profit verspricht. Und dazu gehört auch der designte Mensch“, warnt der Grazer Uni-Professor. Der Transhumanismus kenne kein Genug und keine Grenze. Es sei eine streng materialistische Lehre, die den Menschen als reine Materie betrachtet, die beliebig verändert werden könne. Und andererseits als ein Informationsverarbeitungssystem, das sich steuern und optimieren lasse, die Vollendung der Schöpfung durch Technik.
Für Ungericht stellt sich nicht nur die Frage, wer die auserkorene MarsElite bildet, sondern auch deren Gegenteil, wer die Masse der „Überflüssigen“, nicht ausreichend optimierten
Menschen, bildet. „Könnte deren Entsorgung einmal an eine künstliche Intelligenz delegiert werden und könnte so die industrielle Vernichtung von Menschen, wie in Auschwitz, in moderner und neuer Form zurückkehren?“, fragt der Ethiker. Algorithmen könnten künftig ausgewählten Gruppen von Menschen lebensnotwendige Ressourcen entziehen und die soziale Existenz von Individuen durch Löschung ihrer Daten beenden. Killerroboter hätten zudem das Potenzial, ein jahrtausendealtes Problem der Eliten zu lösen: die mangelnde Verlässlichkeit menschlicher Soldaten.
Dieser Dystopie, diesem Menschheitsdrama, stellt Ungericht seine völlig konträre Utopie gegenüber, nämlich einen Lebensstil, der seiner Ansicht nach innerhalb dessen
bleibt, was unser Planet ökologisch tragen und ertragen kann. Er spricht
von einem „Pfadwechsel“. Dieser würde erfordern, dass die westliche Welt
ihren Ressourcenverbrauch um bis zu 90 Prozent reduziert. Es bedeutet einen radikalen Kulturwandel. „Wenn man sich verirrt hat, empfiehlt es sich, an jene Orte zurückzukehren, wo man falsch abgebogen ist.“Ungericht empfiehlt eine starke Beschränkung von Elitenmacht –
und das würde auch das Ende global agierender Konzerne bedeuten, die das Ziel der Profitmaximierung für Spekulanten und externe Shareholder verfolgen. Alles nicht ganz einfach zu begreifen, geschweige denn zu verdauen.
An dieser Stelle sei an Carl Gustav Jung erinnert. Der 1961 verstorbene Schweizer Psychiater hielt Raumflüge schlicht für Eskapismus. Jungs Utopie ist die Reise zum eigenen Selbst. Die
wäre „schwieriger als jede Marsmission“.
Zum Weiterlesen: Stefan Selke: „Wunschland“. Ullstein, 2022.
Bernhard Ungericht: „Immer-mehr und Nie-genug!“. Metropolis, 2021.