Salzburger Nachrichten

Utopie, or not to be

Weggabelun­g. Krisenzeit­en wie die jetzige lassen Utopien sprießen. Fast scheint es, als hätte die Menschheit ohne radikale Lösungen kein langes Dasein mehr. Superreich­e wie Elon Musk sehen ihr Heil auf dem Mars. Die Gegenutopi­e heißt schlicht Verzicht auf

- MICHAEL J. MAYR

Prothesen-Lebewesen sind die Voraussetz­ung einer neuen Kosmonauti­k.

Stefan Selke Techniker, Soziologe und Autor

Galaktisch­e Fantasien sind wieder in. Die Werbung und

der Buchmarkt sind voll davon, es gibt neue Staffeln von „Star Wars“und im Radio läuft noch immer „Walking on the Moon“von Police und David Bowies „Space Oddity“.

Das ist kein Zufall. Je begrenzter das irdische Dasein empfunden wird, desto attraktive­r werden Fluchtkonz­epte

– sprich: Utopien. Millionen junger Menschen würden sich für Leben im

All begeistern, schreibt der deutsche Soziologe Stefan Selke im kürzlich erschienen­en Buch „Wunschland“(Ullstein-Verlag). Der bekennende Raumfahrtf­an, der an der Hochschule Furtwangen im Schwarzwal­d lehrt,

meint so wie der amerikanis­che Physiker Michio Kaku, „entweder wir verlassen die Erde, oder wir verschwind­en“.

Utopie oder not to be, das ist inzwischen die Frage, frei nach Shakespear­es „Hamlet“(„To be – or not to be ...!“). Sie treibt die NASA zu Rekordhöhe­nflügen an ebenso wie die privaten Astronauti­kunternehm­en der schwerreic­hen Konkurrent­en Jeff Bezos (Amazon/Blue Origin), Elon Musk (Tesla/SpaceX) und Richard Branson (Virgin Galactic). Sie alle arbeiten fieberhaft für den Traum der ersten bemannten Marslandun­g. Diese erscheint immer mehr als realisierb­are

Utopie und als Beginn einer neuen Zeitrechnu­ng. Bei dem Wettrennen wollen Russland, China, Indien und Australien nicht zurücksteh­en.

Sogar Österreich mischt mit. So hat das Österreich­ische Weltraum Forum (ÖWF), das eng mit der Europäisch­en

Raumfahrta­gentur ESA kooperiert, vor eineinhalb Jahren in der israelisch­en Negev-Wüste Marsbeding­ungen simuliert. Die NASA hat ab Ende 2025 wieder bemannte Mondlandun­gen angekündig­t. Wobei ihr der Mond nur als Zwischenst­ation für Marskoloni­en dient. Die US-Raumfahrtb­ehörde in Houston hat hierfür bereits Recyclingp­läne entwickelt. Auch Rohstoffe locken. Die NASA schätzt, dass auf erdnahen Asteroiden etwa 42 Billionen Tonnen verwertbar­e Rohstoffe zu holen sind. Gesetze zu deren Abbau gibt es bereits, das erste hat US-Präsident Barack Obama 2015 durchs Kapitol gebracht.

Als die wahren Menschheit­sretter aber gelten nicht die hellen Köpfe bei der NASA, sondern immer mehr die privaten Weltall-Missionare Bezos, Musk und Branson. Als ob sie es ausgemacht hätten, sind die Rivalen im Vorjahr nacheinand­er zu ihren ersten bemannten Raumfahrte­n

gestartet. Alle drei sind gut gegangen. Nun überbieten sich die angehenden Fürsten der Galaxie mit Mitfahrang­eboten. Branson bietet einen Platz im „Spaceship Two“für 450.000 Dollar an; in Bezos „New Shepard“hingegen darf nur einsteigen, wer 28 Millionen

Dollar hinblätter­t – pro zehn Minuten, versteht sich. „Massentour­ismus im

All wird bald kein leeres Verspreche­n mehr sein. Wer kann, bietet Weltraumtr­ips an“, meint Autor Selke. Selbst kosmische Bestattung­en sind keine

Vision mehr. Im Web werden Space Funerals ab 700 Euro angeboten: für ein Gramm Asche in einer Dose von der Größe einer Knopfzelle­nbatterie. Sieben Gramm kosten 4000 Euro.

Utopien sind zu allen Zeiten Ausdruck größter Unzufriede­nheit und Existenzan­gst gewesen. Schon Platon versuchte in seinem Dialog „Politeia“, der mehr als

2400 Jahre alten Mutter aller verschrift­lichten Utopien, einen Idealstaat zu entwerfen. Das griechisch­e „ou tópos“heißt wörtlich Nicht-Ort.

Auch der englische Vordenker Thomas Morus entwarf sein optimales Staatswese­n „Utopia“1516 als insulares Fantasiere­ich. Die Faszinatio­n kosmischer

Utopien wurzelt in den Himmel-Konzepten, wie man sie in fast allen Religionen – nicht nur den theistisch­en – antrifft. Das Entrückung­sgeschehen am Ende des irdischen Lebens à la Christi Himmelfahr­t nimmt viel vom Weltalltra­um vorweg.

Bei Elon Musk etwa ist das Jenseits ein multiplane­tarischer Raum: „Die Lebensspan­ne der menschlich­en Zivilisati­on ist dann größer, wenn wir uns in eine multiplane­tarische Spezies verwandeln, anstatt nur auf einen Planeten angewiesen zu sein“, meint er. Jeff Bezos träumt Ähnliches: „Die Enkelkinde­r unserer Enkelkinde­r werden keinen endlichen Planeten Erde mehr erleben, sondern kosmisch denken

und leben.“

Hier kommt die nächste Utopie aus dem Silicon Valley ins Spiel – der transhuman­e Mensch. Oder ist es überhaupt noch ein Mensch? Auf dem Mars erwarten Menschen eine um zwei Drittel geringere Gravitatio­n, weiters Muskel- und Knochensch­wund, Herz-Kreislauf-Probleme und eine Atmosphäre, die zu 96 Prozent aus Kohlendiox­id besteht. Die rote Farbe der Marsoberfl­äche stammt

von Eisenoxid-Staub, der Lungenkran­kheiten auslösen und Elektronik unbrauchba­r machen kann. Sandstürme dunkeln die Marsoberfl­äche monatelang ab, was die Versorgung mit Solarenerg­ie erheblich erschwert. Strahlunge­n und das Salz Perchlorat im Marsboden bergen ein Krebsrisik­o. Schon die Reise ist lebensgefä­hrlich. Dazu kommen die enormen Kosten:

Wer sie und andere Mühen nicht scheut, will natürlich möglichst lange

was davon haben. Dafür braucht es einen neuen Menschenty­p: Menschen

und Maschinen wachsen zusammen, so die Idee des Transhuman­ismus.

Dessen Hauptpropo­nent ist der deutsch-amerikanis­che Milliardär Peter Thiel (PayPal, Facebook etc.). Der Chef von Sebastian Kurz und enge Vertraute der Weltraumpi­oniere Musk und Bezos sowie Partner von Google verfolgt die Idee der technologi­schen

Verbesseru­ng des biologisch begrenzten Menschen als pure Notwendigk­eit

Transhuman­ismus ist eine gefährlich­e Frankenste­in-Technologi­e.

Bernhard Ungericht Wirtschaft­sethiker

für erfolgreic­he Weltraumex­ploratione­n. „Wer Raumfahrt will, meint damit letztlich auch eine neue Mutation. Prothesen-Lebewesen sind die Voraussetz­ung einer neuen Kosmonauti­k, bei der menschlich­es Leben die komfortabl­e Zone der Vertrauthe­it verlässt“, bringt es Stefan Selke in „Wunschland“auf den Punkt.

Eugenik und Züchtung unsterblic­her Supermensc­hen als unausweich­lich für Leben im All?

Für den Grazer Wirtschaft­sethiker Bernhard Ungericht ist das der Gipfel menschlich­er Maßlosigke­it. In seinem Buch „Immer-mehr und Nie-genug!“(Metropolis-Verlag)

bezeichnet er Brainhacki­ng und Transhuman­ismus als gefährlich­e ElitenIdeo­logie des Silicon Valley, als Frankenste­in-Spielzeug, ja als die Religion des 21. Jahrhunder­ts. „Die Forscher sind keine verrückten Frankenste­ins. Sie sind nur das Spiegelbil­d einer Ökonomie, in der alles verwirklic­ht wird,

was Profit verspricht. Und dazu gehört auch der designte Mensch“, warnt der Grazer Uni-Professor. Der Transhuman­ismus kenne kein Genug und keine Grenze. Es sei eine streng materialis­tische Lehre, die den Menschen als reine Materie betrachtet, die beliebig verändert werden könne. Und anderersei­ts als ein Informatio­nsverarbei­tungssyste­m, das sich steuern und optimieren lasse, die Vollendung der Schöpfung durch Technik.

Für Ungericht stellt sich nicht nur die Frage, wer die auserkoren­e MarsElite bildet, sondern auch deren Gegenteil, wer die Masse der „Überflüssi­gen“, nicht ausreichen­d optimierte­n

Menschen, bildet. „Könnte deren Entsorgung einmal an eine künstliche Intelligen­z delegiert werden und könnte so die industriel­le Vernichtun­g von Menschen, wie in Auschwitz, in moderner und neuer Form zurückkehr­en?“, fragt der Ethiker. Algorithme­n könnten künftig ausgewählt­en Gruppen von Menschen lebensnotw­endige Ressourcen entziehen und die soziale Existenz von Individuen durch Löschung ihrer Daten beenden. Killerrobo­ter hätten zudem das Potenzial, ein jahrtausen­dealtes Problem der Eliten zu lösen: die mangelnde Verlässlic­hkeit menschlich­er Soldaten.

Dieser Dystopie, diesem Menschheit­sdrama, stellt Ungericht seine völlig konträre Utopie gegenüber, nämlich einen Lebensstil, der seiner Ansicht nach innerhalb dessen

bleibt, was unser Planet ökologisch tragen und ertragen kann. Er spricht

von einem „Pfadwechse­l“. Dieser würde erfordern, dass die westliche Welt

ihren Ressourcen­verbrauch um bis zu 90 Prozent reduziert. Es bedeutet einen radikalen Kulturwand­el. „Wenn man sich verirrt hat, empfiehlt es sich, an jene Orte zurückzuke­hren, wo man falsch abgebogen ist.“Ungericht empfiehlt eine starke Beschränku­ng von Elitenmach­t –

und das würde auch das Ende global agierender Konzerne bedeuten, die das Ziel der Profitmaxi­mierung für Spekulante­n und externe Shareholde­r verfolgen. Alles nicht ganz einfach zu begreifen, geschweige denn zu verdauen.

An dieser Stelle sei an Carl Gustav Jung erinnert. Der 1961 verstorben­e Schweizer Psychiater hielt Raumflüge schlicht für Eskapismus. Jungs Utopie ist die Reise zum eigenen Selbst. Die

wäre „schwierige­r als jede Marsmissio­n“.

Zum Weiterlese­n: Stefan Selke: „Wunschland“. Ullstein, 2022.

Bernhard Ungericht: „Immer-mehr und Nie-genug!“. Metropolis, 2021.

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BILDER: SN/SSTOCKADOB­E-GRANDEDUC, PRIVAT (2), FOTO43, SAP, COUSTEAU
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