Traum und Albtraum
Utopielabore. Eine bessere Welt im Kleinen wollten schon viele erschaffen. Selten erfolgreich.
Die vom Baumwollfabrikanten Titus Salt 1851 in Yorkshire gegründete Mitarbeitersiedlung sollte zum Prototyp zahlreicher Company Towns rund um den Globus werden: als Statussymbole von Industriedynastien. Die Arbeiterstädte der „Hohen Priester des Kapitalismus“(Stefan Selke) mit eigener Infrastruktur endeten in der Regel als Dystopien. Denn die vermeintlichen Gönner ließen die Bewohner ihrer Ghettos systematisch kontrollieren und disziplinieren. Österreichs bekannteste Firmenstadt errichtete der Waffenfabrikant Josef Werndl ab 1870 in Steyr. Die „Wehrgraben-Siedlung“mit Europas erstem Arbeiterschwimmbad prägt das Stadtbild bis heute.
Monte Verità
1900 gründete eine Handvoll Lebensreformer auf dem Hügel Monescia bei Ascona in der Schweiz eine kleine Aussteigerkolonie. Das anarchistische Reformlabor mit den Zielen Vegetarismus, Naturheilkunde, geschlechtliche Gleichberechtigung, Nudismus und Genossenschaftswesen oberhalb des Lago Maggiore wurde zur Pilgerstätte mit Naturheilsanatorium. Hermann Hesse zählte zu den Gästen. Parallel entwickelte sich eine Sommerschule für Bewegungskunst. Sie
gilt als Wiege des modernen Balletts. 1925 beendeten finanzielle Nöte das Experiment. Heute ist Monte Verità ein veritables Kongresshotel.
Fordlandia
1925 ließ US-Autopionier Henry Ford im
Amazonas-Regenwald seinen Traum einer perfekten Reifenfabrik und der Entwicklung eines besseren Menschen
verwirklichen. Fords Company Town endete 1945 als Desaster – es blühten Missmanagement, Überwachung, Alkoholismus, Spielsucht und Prostitution. Heute ist es eine Geisterstadt.
Auroville
Die seit bald 55 Jahren bestehende „Stadt der Morgenröte“in Südindien geht auf die Aussteigerin Mira Alfassa zurück. Die Pariserin, die später Guru-Status erlangte, begann 1968 ein universelles Paradies aufzubauen ohne Nationalität, Religion/Personenkult, Hierarchie, Geld/Besitz/Konsum sowie ohne Gier, Hass und Angst. Die
UNESCO und Ministerpräsident Rajiv Gandhi unterstützten das multikulturelle Experiment ebenso wie der Dalai Lama und die Caritas. Immerhin 3000 Menschen aus 60 Nationen, darunter ein Dutzend aus Österreich, halten es dauerhaft in der Anti-Establishment-Kolonie aus. Hippies kommen kaum noch, denn Neulinge müssen rund 12.000 Dollar in die Gemeinschaftskasse einzahlen. Damit wird die in Form eines Spiralnebels geplante Stadt rund um einen Meditationstempel als Wahrzeichen weitergebaut.
Conshelf Saltaire
Zwischen 1962 und 1965 schickte Meeresforscher Jacques-Yves Cousteau drei Expeditionsteams in stählernen Habitaten in bis zu 50 Meter Tiefe unters Wasser. Der erste Versuch, vor Marseille am Meeresgrund zu leben, dauerte eine Woche. Der zweite Versuch im Roten Meer dauerte wegen technischer Probleme ebenso kurz. Bei der dritten Mission hielten sechs Aquanauten vor Monaco drei Wochen in einer Kugel durch. Danach war Cousteau pleite.
Friedrichshof
1970 vom Aktionskünstler Otto Muehl bei Parndorf gegründet, darf die Friedrichshof-Gemeinschaft als Österreichs bedeutendster Beitrag zur Geschichte der Sozialutopien gelten. Mit 600 Mitgliedern war
sie Europas größte freie Kommune. Ihre Grundsätze waren radikaler Kommunismus und ungebundener Sexualverkehr. Die Freiheiten schlugen um in eine Sex- und Sozialdiktatur. 1990 wurde die „Aktionsanalytische Organisation“im Burgenland aufgelöst und Muehl wegen Kindesmissbrauchs und Drogendelikten zu sieben Jahren Haft verurteilt.