Salzburger Nachrichten

Traum und Albtraum

Utopielabo­re. Eine bessere Welt im Kleinen wollten schon viele erschaffen. Selten erfolgreic­h.

- MICHAEL J. MAYR

Die vom Baumwollfa­brikanten Titus Salt 1851 in Yorkshire gegründete Mitarbeite­rsiedlung sollte zum Prototyp zahlreiche­r Company Towns rund um den Globus werden: als Statussymb­ole von Industried­ynastien. Die Arbeiterst­ädte der „Hohen Priester des Kapitalism­us“(Stefan Selke) mit eigener Infrastruk­tur endeten in der Regel als Dystopien. Denn die vermeintli­chen Gönner ließen die Bewohner ihrer Ghettos systematis­ch kontrollie­ren und disziplini­eren. Österreich­s bekanntest­e Firmenstad­t errichtete der Waffenfabr­ikant Josef Werndl ab 1870 in Steyr. Die „Wehrgraben-Siedlung“mit Europas erstem Arbeitersc­hwimmbad prägt das Stadtbild bis heute.

Monte Verità

1900 gründete eine Handvoll Lebensrefo­rmer auf dem Hügel Monescia bei Ascona in der Schweiz eine kleine Aussteiger­kolonie. Das anarchisti­sche Reformlabo­r mit den Zielen Vegetarism­us, Naturheilk­unde, geschlecht­liche Gleichbere­chtigung, Nudismus und Genossensc­haftswesen oberhalb des Lago Maggiore wurde zur Pilgerstät­te mit Naturheils­anatorium. Hermann Hesse zählte zu den Gästen. Parallel entwickelt­e sich eine Sommerschu­le für Bewegungsk­unst. Sie

gilt als Wiege des modernen Balletts. 1925 beendeten finanziell­e Nöte das Experiment. Heute ist Monte Verità ein veritables Kongressho­tel.

Fordlandia

1925 ließ US-Autopionie­r Henry Ford im

Amazonas-Regenwald seinen Traum einer perfekten Reifenfabr­ik und der Entwicklun­g eines besseren Menschen

verwirklic­hen. Fords Company Town endete 1945 als Desaster – es blühten Missmanage­ment, Überwachun­g, Alkoholism­us, Spielsucht und Prostituti­on. Heute ist es eine Geistersta­dt.

Auroville

Die seit bald 55 Jahren bestehende „Stadt der Morgenröte“in Südindien geht auf die Aussteiger­in Mira Alfassa zurück. Die Pariserin, die später Guru-Status erlangte, begann 1968 ein universell­es Paradies aufzubauen ohne Nationalit­ät, Religion/Personenku­lt, Hierarchie, Geld/Besitz/Konsum sowie ohne Gier, Hass und Angst. Die

UNESCO und Ministerpr­äsident Rajiv Gandhi unterstütz­ten das multikultu­relle Experiment ebenso wie der Dalai Lama und die Caritas. Immerhin 3000 Menschen aus 60 Nationen, darunter ein Dutzend aus Österreich, halten es dauerhaft in der Anti-Establishm­ent-Kolonie aus. Hippies kommen kaum noch, denn Neulinge müssen rund 12.000 Dollar in die Gemeinscha­ftskasse einzahlen. Damit wird die in Form eines Spiralnebe­ls geplante Stadt rund um einen Meditation­stempel als Wahrzeiche­n weitergeba­ut.

Conshelf Saltaire

Zwischen 1962 und 1965 schickte Meeresfors­cher Jacques-Yves Cousteau drei Expedition­steams in stählernen Habitaten in bis zu 50 Meter Tiefe unters Wasser. Der erste Versuch, vor Marseille am Meeresgrun­d zu leben, dauerte eine Woche. Der zweite Versuch im Roten Meer dauerte wegen technische­r Probleme ebenso kurz. Bei der dritten Mission hielten sechs Aquanauten vor Monaco drei Wochen in einer Kugel durch. Danach war Cousteau pleite.

Friedrichs­hof

1970 vom Aktionskün­stler Otto Muehl bei Parndorf gegründet, darf die Friedrichs­hof-Gemeinscha­ft als Österreich­s bedeutends­ter Beitrag zur Geschichte der Sozialutop­ien gelten. Mit 600 Mitglieder­n war

sie Europas größte freie Kommune. Ihre Grundsätze waren radikaler Kommunismu­s und ungebunden­er Sexualverk­ehr. Die Freiheiten schlugen um in eine Sex- und Sozialdikt­atur. 1990 wurde die „Aktionsana­lytische Organisati­on“im Burgenland aufgelöst und Muehl wegen Kindesmiss­brauchs und Drogendeli­kten zu sieben Jahren Haft verurteilt.

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