Viel mehr als nur Rioja
Kastilien-León. Spaniens wilder Westen besticht mit kulinarischen und landschaftlichen Höhepunkten.
Besondere Weine brauchen besondere
Namen. „575 uvas“heißt der beste Wein des Weinguts Cámbrico in Villanueva del Conde in der Sierra de Francia. Kellermeister Fernando Maillo lüftet das Geheimnis des Namens. „Es braucht 575 einzelne
Trauben, um eine Flasche Wein zu füllen.“Originelle Namen, wiederentdeckte Rebsorten, innovative Konzepte und die Berücksichtigung des Klimawandels – nur einige der Zugänge, die Winzer im Westen Spaniens wählen, um ihre Weine zu präsentieren.
Kein anderes Land der Welt widmet dem Weinbau mehr Fläche als Spanien. Tradition und Know-how reichen zurück in die Zeit vor den Römern. Diese erkannten schnell die idealen Bedingungen der Iberischen Halbinsel für den
Weinanbau in puncto Boden, Sonne, Niederschlag und Landschaftsformen.
In Castilla-León, der größten Region Spaniens im Grenzgebiet zu Portugal, zollen der reichen Weintradition neun offizielle
Weinstraßen Respekt. Die meisten davon liegen am Río Duero, jenem Fluss, der über 900 Kilometer eine wichtige Lebensader für Kastilien und Portugal bildet – und dessen Mikroklima ein Glücksfall für die Weinbauern
beider Länder ist, die hier großartige Produkte hervorbringen.
Zamora bietet sich als Ausgangspunkt einer Erkundungstour an. Auf einem Hügel über dem Duero gelegen, zeigt die Provinzhauptstadt romanischen Charme und erlaubt mit Römerbrücke und zahlreichen Kirchen eine Zeitreise in die Vergangenheit. Das angrenzende Weinbaugebiet Toro ist eines der ältesten in Spanien. Hier erfolgte der Startschuss für den Export von Wein und Wissen: Toro war der erste Wein, den Spanien nach Amerika
brachte. Und zwar vor 530 Jahren. Der Exporteur hieß Christoph Kolumbus, der Rebsaft war Teil der Mannschaftsverpflegung.
Bevor es ans Verkosten der Weine geht, steht noch ein Besuch in der kleinen Panadería der Hermanos Coomonte auf dem Programm, wo das für die Gegend typische Weißbrot hergestellt wird. Dem Bäcker ist nicht anzumerken, dass er schon seit den Nachtstunden im Einsatz ist, routiniert wirft er Teigbatzen auf die bemehlte Arbeitsfläche, auf der seine Frau mit wieselflinken Gesten „barras“, die spanische Variante von Baguettes, formt.
Am Abend dann die erste Weinverkostung oder „Cata“. Der Chef des Weinguts ViñaVer, Ramiro Morán Vicente,
legt die Verkostung als sinnenfrohes Spektakel an, auf jedem Platz stehen acht funkelnde Gläser, von Malvasía bis Tempranillo, jener kräftigen Traube, die vielen spanischen
Weinen ihren unverwechselbaren Geschmack verleiht. Sein Sohn gibt Zauberkunststücke zum Besten. Vor dem Abgang zum Weinkeller hat Ramiro prominent ein Foto aus seiner
Zeit als Leistungssportler platziert, er war spanischer Meister im Halbmarathon und über 3000 Meter Hürden,
bei der EM in Budapest 1998 belegte er Rang sechs. Wie stolz er auf diese Erfolge ist, zeigt sich daran, dass er sein Spitzenprodukt „Tempranillo Atleta Reserva“nennt: ein dichter, kirschfarbener
Wein, der mit reifer Frucht und kräftiger Eiche daherkommt und stolze 15,1 Volumenprozent auf die Waage bringt. Kein Leichtgewicht.
Tempranillo ist die wichtigste spanische Rotweinsorte und
Hauptbestandteil der bekannten Rioja-Weine. Für Weinfreunde interessanter sind meist die selteneren und oftmals autochthonen Sorten, die nur in Spanien zu finden sind wie Rufete, Rufete Blanco, Doña Blanca, Puesta en Cruz, Juan García, Bruñal, Bastardo oder Verdejo. An die 240 Rebweinsorten werden aktuell in Spanien angebaut. Doch auf 20 Rebsorten
entfallen 80 Prozent der Anbaufläche. Die Lektion: Spanischer Wein ist viel mehr als Rioja oder Ribeiro.
Etliche Sorten sind sehr alt, manche waren akut vom Verschwinden bedroht, bevor sie jetzt wieder neu entdeckt wurden. Der Vielfalt förderlich
war die Silberstraße, jene alte Römerstraße, die die Iberische Halbinsel von
Süden nach Norden durchquert. Dank der hohen Frequenz von Durchreisenden – ab dem Mittelalter auch Pilger auf dem Jakobsweg – fand hier ein reger Austausch von Rebsorten statt. Das Weingut Cámbrico bei Villanueva del Conde
etwa hat sich auf die Rebsorte Rufete Blanco spezialisiert. Hier legt man Wert auch auf kleinste Einheiten, um ein einzigartiges Ökosystem aufrecht zu halten. Benannt ist die Bodega nach dem Erdzeitalter Kambrium, in dem die ältesten Böden des Landes entstanden, Granit und Schiefer – der optimale Untergrund für mineralstoffreiche Weine.
Aus Kopenhagen ist der frühere Börsenmakler Thyge nach Fermoselle übersiedelt, um hier seine Vorstellung von einem „weichen, femininen Wein“zu verwirklichen. Für die lokalen Weinbauern ist Chus, wie er sich hier nennt, ein Rebell, weil er immer als Erster erntet – um zu vermeiden, dass der Wein infolge des Klimawandels zu viel Zucker entwickelt.
In Fuentesaúco kann man die Produktion eines weiteren Grundnahrungsmittels der Region kennenlernen – Käse. „Mit Käse, Brot und Wein ist kein Weg zu lang“, sagt ein spanisches Sprichwort. Seit 2002
hat sich die Schafkäserei La Antigua zu einem Leitbetrieb entwickelt. Von zwei Uhr nachts bis um zehn Uhr vormittags wird hier Schafmilch aus der Region eingesammelt, 29 Millionen Liter im Jahr entsprechen zehn
Prozent der landesweiten Gesamtproduktion. Nach einem ausgiebigen Salzwasserbad kommt für die frischen Käselaibe eine bis zwölf Monate dauernde Reifephase, bevor sie
– teils angereichert mit Olivenöl, Anis, Chia, Safran oder Tempranillo-Wein – bis nach China und in die USA exportiert werden. Zum heurigen 20-Jahr-Jubiläum will sich Käserei-Gründer Fernando mit der Eröffnung eines Käse-Museums auf 800 Quadratmetern einen Traum erfüllen. Auch das Gebäude selbst soll an einen Käse erinnern. „Wir wollen unsere Leidenschaft für Käse teilen“, sagt Fernando – ein Versuch, dem florierenden Weintourismus bald auch einen „Quesoturismo“zur Seite zu stellen.
Ein Besuch in Salamanca ist der kulturelle Höhepunkt einer Reise durch Altkastilien. Die 1218 gegründete Universität zählt zu den ältesten der Welt, sie hat nur unwesentlich weniger Jahre auf dem Buckel als die Bildungstempel
von Bologna, Paris, Oxford und Cambridge. Salamanca ist ein Zentrum der Gelehrsamkeit und Kultur, wozu auch der Umstand beiträgt, dass die Stadt gleich zwei Kathedralen hat. Das liegt schlicht daran, dass die alte, aus dem 12. Jahrhundert, nicht rechtzeitig abgerissen wurde, bevor die neue, aus dem 16. Jahrhundert, fertig war. Auf dem Portal der älteren Kathedrale lassen sich Hinweise auf außerirdische Besucher entdecken – im Stuckwerk ist klar ein Astronaut im Raumanzug zu erkennen. Wie das? Bei der Renovierung der Kathedrale 1992 haben sich Steinmetze einen Scherz erlaubt und die dargestellte Geschichte der Entstehung des Weltalls und der Menschheit um ein paar
hundert Jahre aktualisiert. Das erklärt auch den steinernen Drachen, der an der Fassade ungeniert an einem Stanitzel mit Eis schleckt. Noch passender wäre freilich ein Glas Rotwein gewesen.