Das große Piepsen
Seit dem 6. Juli sind gewisse Fahrassistenzsysteme für Neuwagen Pflicht. Im ÖAMTC-Fahrsicherheitszentrum Saalfelden machten wir den Selbsttest.
Kaum zu glauben, aber wahr: Selbst nach 23 Jahren Führerschein, knapp einer Million gefahrenen Kilometern und gefühlt Hunderten Testfahrzeugen gibt es noch Situationen, in denen man hinter dem Steuer Herzklopfen
bekommt. Und zwar schneller, als man es sich selbst eingestehen möchte. Immerhin: Der Grund der Nervosität sind nicht etwa die Zweifel an den eigenen Fahrkünsten.
Vielmehr geht es um das Vertrauen in die moderne Technik. Oder vielmehr: die Abwesenheit dieses Vertrauens.
Schuld an der Misere war wieder einmal Matthäus Radner. Der Fahrtechnik-Trainer am ÖAMTC-Fahrtechnikzentrum in Saalfelden hatte mir unmissverständlich klargemacht, dass ich dieses Mal nicht aufs Bremspedal treten sollte. Zumindest nicht von vornherein. Also fuhr ich wie befohlen mit Tempo 45 auf das sogenannte Soft Target zu. Und dachte nebenbei über die Ironie dieser Bezeichnung nach. Gemeint ist damit ein Hindernis, wie es für Fahrsicherheitstrainings gerne verwendet wird. De
facto handelt es sich um eine dicke Matte, wie sie seit Generationen im Turnunterricht zum Einsatz kommt, um von ganz oben auf der Sprossenwand unbeschadet darauf zu springen. Oder zu fallen, je nachdem. Mit dem entscheidenden Unterschied, dass jene Matte, auf die ich gerade ungebremst zuraste, dem Heck eines Autos zum Verwechseln ähnlich sah.
Der Sinn dieser Übung liegt laut Matthäus Radner hauptsächlich darin, ein Gefühl für und vor allem Vertrauen in die Funktion des Notbremsassistenten zu bekommen. Die Aufgabe dieses Systems besteht darin, einen möglichen
Zusammenstoß zu vermeiden, indem es selbstständig eine Notbremsung einleitet. Oder – auf diese Feststellung legte mein Fahrinstruktor bedenklicherweise großen Wert – die Geschwindigkeit wenigstens so weit zu verringern, um die Schwere eines eventuellen Aufpralls zu mildern.
Seit dem Inkrafttreten einer neuen EU-Verordnung müssen Fahrzeuge, die ab dem 6. Juli 2022 erstmalig in einem Land der Europäischen Union zugelassen werden, eine ganze Reihe sogenannte Fahrassistenzsysteme (FAS) serienmäßig an Bord haben. Neben dem bereits erwähnten Notbremsassistenten ist davon beispielsweise der Notfall-Spurhalteassistent betroffen, der das Auto im Zweifel auf seinem Fahrstreifen
halten soll. Aber auch gleichermaßen sinnvolle Erfindungen wie der Müdigkeitswarner, das Notbremslicht oder der intelligente Geschwindigkeitsassistent, der vereinfacht ausgedrückt dafür sorgt, dass sich der Geschwindigkeitsregler ganz von allein an das jeweils geltende Tempolimit hält.
Nicht erst seit der jüngsten Gesetzesnovelle hat man es sich beim ÖAMTC zur Aufgabe gemacht, die Teilnehmer der einschlägigen Fahrtechnikkurse für den Nutzen, aber auch für die Eigenheiten und Schwächen dieser technischen
Hilfssysteme zu sensibilisieren. „Wir sind stets darum bemüht, das Positive dieser Systeme hervorzukehren. Und zwar indem wir aufzeigen, wie oft die moderne Technik dabei helfen kann, einen Unfall zu vermeiden“, versichert Matthäus Radner. Die Nachteile – etwa dass sich Autobesitzer durch das häufige Piepsen genervt fühlen können – seien in der Abwägung zum Sicherheitsgewinn absolut zu vernachlässigen.
Dass es dabei immer wieder zu Aha-Erlebnissen
kommt, versüßt dem Fahrtechnik-Experten sichtlich den Arbeitstag. Wie in diesem Fall bei
mir, als ich mich beim dritten Anlauf endlich dazu überwinde, im Angesicht des drohenden
Aufpralls nicht aufs Bremspedal zu treten, sondern dem Notbremsassistenten seine Arbeit tun zu lassen. Und tatsächlich: Genau in dem Augenblick, als ich mich geistig auf den Zusammenstoß mit dem Soft Target einstelle, übernimmt der Computer und springt für mich in die Eisen. Am Ende liegen nur wenige Millimeter zwischen der Motorhaube und dem Hindernis, das sich bei genauerem Hinsehen tatsächlich als weiche Turnhallenmatte entpuppt.
Allerdings: Sich allzu sehr auf die Fähigkeiten der Technik zu verlassen ist ebenfalls keine gute Idee. Denn schon beim nächsten Versuch mit etwas höherem Tempo wird das System ganz offensichtlich von der niedrig stehenden Herbstsonne geblendet und löst deswegen
nicht aus. „Breeeems!“, brüllt Matthäus vom Beifahrersitz, und dieses Mal testen wir die Nachgiebigkeit des Soft Target tatsächlich.
Fazit: Die Grenze zwischen Vertrauen zur Technik, gesunder Skepsis und dem Bewusstsein, dass man im Zweifelsfall immer selbst aktiv werden muss, ist fließend. Oder wie der ÖAMTC-Experte es formuliert: „Es ist entscheidend zu erkennen, dass es sich bei den elektronischen Helfern per Definition nur um Hilfsassistenten handelt, die nur dann im allerletzten
Moment eingreifen, wenn ganz offensichtlich Gefahr im Verzug ist. Aus diesem Grund kündigt die Technik ihr baldiges Eingreifen auch stets an – etwa durch ein akustisches Signal, ein kurzes Rütteln am Lenkrad oder durch einen
blitzschnellen Bremsimpuls.“Genauso wichtig sei es aber auch zu wissen, dass die Sicherheitssysteme sofort ihre Tätigkeit einstellten, sobald der Mensch eingreife – und sei es auch nur, dass man das Bremspedal bloß streichelt.
Viele Autofahrer wissen zwar, dass sie dieses oder jenes Assistenzsystem im Auto verbaut haben. Aber nicht, wie man die Technik richtig betätigt, geschweige denn aktiviert oder gegebenenfalls auch richtig konfiguriert. „Sobald man in der Praxis eigene Erfahrungen macht, entwickelt man eine ganz andere Sensibilität
gegenüber dem Thema“, ist Radner überzeugt. „Und in den meisten Fällen überwiegt am Ende des Tages die Erkenntnis: Gott sei Dank hat
mein Auto dieses Feature auch verbaut.“
Assistenzsysteme können kleine Fahrfehler ausgleichen – aber nicht mehr.
Matthäus Radner, Fahrtechnik-Trainer ÖAMTC