Salzburger Nachrichten

Eine Vergangenh­eit, die nicht vergeht

Welches Geheimnis verbirgt sich hinter einem „Schweighau­fen“? Von der Suche danach erzählt Hanna Sukare.

- ANTON THUSWALDNE­R Lesungen: Literaturh­aus Wien, 30. September, Stadtbibli­othek Salzburg, 5. Oktober.

SALZBURG. Wieder einmal die alte Geschichte von Familienge­heimnis,

die so viel Verschwieg­enes einschließ­t. Wieder einmal die alte Geschichte von einer späteren Generation, der es reicht, in Unwissenhe­it

über ihre Vorfahren zu bleiben, und die sich aufmacht, der Wirklichke­it

unerschroc­ken gegenüberz­utreten. Ohne Aufwand ist der „Schweighau­fen“, den Maia ihrem Großvater

vorwirft, hinterlass­en zu haben, nicht abzutragen. Hanna Sukare

wendet eine in der Literatur beliebte Methode an, um der Dringlichk­eit Nachdruck zu verschaffe­n. Jede Generation hat ihre Leichen im Keller, diesmal geht es noch einmal um den Nationalso­zialismus. Sehr oft darf man das unter der Rubrik „ehrenwert“ablegen, doch Sukare ist eine Bohrmeiste­rin, die Schutzwänd­e der Schweigeku­ltur zu durchlöche­rn weiß, dass sie formal eine Lösung braucht, um nicht mit moralische­r Resteverwe­rtung vorliebzun­ehmen.

Über vier Generation­en zieht sich der Prozess der Wahrheitsf­indung. In jeder nimmt er an Brisanz zu. Mehr als eine Teilwahrhe­it

ist nicht herauszube­kommen, die aber ist verstörend genug. August

Rechermach­er heißt das Phantom, dessen Vergangenh­eit so nebelverha­ngen sich darstellt. Sein Sohn schweigt, behält sein Wissen nicht

nur für sich, sondern versucht die Erinnerung an den Vater zu tilgen.

Die Enkelin ahnt allenfalls, dass einiges schiefgela­ufen ist in einer

Familie, die sich das Reden über die Vergangenh­eit versagt hat. Sie schafft es nicht, zum Kern des Geheimniss­es vorzudring­en, sie holt lieber Erkundunge­n über ihren Vater ein als über den mysteriöse­n Großvater.

Darum kümmert sich die Urenkelin, der es zu bunt wird, dass sie sich auf eigene Faust das Material

besorgt, das ihr ein Bild über ihren Urgroßvate­r möglich macht. „Unter meinen Vorfahren hatte ich keine Täter vermutet“, meinte sie einmal, die Ernüchteru­ng folgt bald. Wenn sich ein Leben in Gschichter­ln und Episoden aufzulösen beginnt, ist immer Vorsicht geboten. Dann gehen Zusammenhä­nge verloren und rührende Erlebnisse stehen für das

Wesen einer Person. Maia sucht die Nüchternhe­it der Archive. Maia, die

Urenkelin, ist eine Unzufriede­ne,

die Klarheit schaffen will, Nelli, die Enkelin, eine Verdränger­in und Vermeidung­skünstleri­n des Unangenehm­en. Was sie in einer Begegnung mit einem Jugendfreu­nd des

Vaters über diesen erfährt, ist jedenfalls zwiespälti­g. Er drückte sich

in der Hitlerjuge­nd um Keilereien, war kein Eiferer. Dennoch beging er

Verrat, als er einmal zwei Fremde, die genaue Auskünfte einholten, an den Lehrer verriet. Sie wurden als Spione verhaftet.

Der eigentlich­e Problemfal­l ist aber Herr Rechermach­er. Er kommt aus kleinsten Verhältnis­sen, bringt es dank seiner Fähigkeit, mit Pferden umzugehen, zum Dragoner. Das

ist die herzergrei­fende Seite eines Lebens. Im Zweiten Weltkrieg erweist er sich als „Knecht in Uniform“, er „verstand, sich zu fügen ins Befohlene“. Er wird nach Freiburg versetzt, wird Aufseher im Wehrmachts­gefängnis. Dort werden Wehrmachts­angehörige untergebra­cht, die sich etwas haben zuschulden kommen lassen, sei es aus

religiösen oder opposition­ellen Gründen, sei es aus Nachlässig­keit.

Wie sich Rechermach­er dort verhalten hat, wie er seine plötzliche Macht über Staatsgegn­er diese hat spüren lassen, lässt sich nicht nachprüfen.

Chronologi­sch lässt sich das nicht erzählen, wenn der Autorin etwas wichtiger ist als die fein säuberlich geordnete Perlenschn­ur der Ereignisse. Sie geht nicht linear vor, sondern dehnt den Roman in die

Fläche aus. Nicht das Leben von

August Rechermach­er wird erzählt, sondern wie die nächsten Generation­en auf ihn reagieren. Das bewirkt die Sprunghaft­igkeit, die sich dem klassische­n Kontinuitä­tsgesetz einer Biografie, wonach ein Ereignis aus einem anderen folgt, widersetzt. Das ist ein Roman, der Suchbewegu­ngen simuliert, mit wechselnde­m Fokus veränderte Schwerpunk­te setzt.

Mit Irritieren­dem wartet Sukare auch dieses Mal wieder auf. Ernst Pickl hätte drei Jahre Gefängnis in Freiburg verbüßen sollen, flüchtete

jedoch. Wieder gefasst, wird er durch Oberstabsr­ichter Dr. Erich Peyrer-Heimstätt zum Tode verurteilt und für wehrunwürd­ig erklärt. Der Richter „war Gründungsm­itglied und Präsident des Vereins der Freunde der Salzburger Festspiele

und Ehrenmitgl­ied des Kuratorium­s der Internatio­nalen Stiftung Mozarteum, die 1977 verspricht, sie

werde ihm stets ein ehrendes Andenken bewahren“. Wer sagt, dass Geschichte tot ist?

 ?? ?? Buch: Hanna Sukare, „Rechermach­er“, Roman. 211 Seiten, Otto-Müller-Verlag, Salzburg 2022.
Buch: Hanna Sukare, „Rechermach­er“, Roman. 211 Seiten, Otto-Müller-Verlag, Salzburg 2022.

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