Eine Vergangenheit, die nicht vergeht
Welches Geheimnis verbirgt sich hinter einem „Schweighaufen“? Von der Suche danach erzählt Hanna Sukare.
SALZBURG. Wieder einmal die alte Geschichte von Familiengeheimnis,
die so viel Verschwiegenes einschließt. Wieder einmal die alte Geschichte von einer späteren Generation, der es reicht, in Unwissenheit
über ihre Vorfahren zu bleiben, und die sich aufmacht, der Wirklichkeit
unerschrocken gegenüberzutreten. Ohne Aufwand ist der „Schweighaufen“, den Maia ihrem Großvater
vorwirft, hinterlassen zu haben, nicht abzutragen. Hanna Sukare
wendet eine in der Literatur beliebte Methode an, um der Dringlichkeit Nachdruck zu verschaffen. Jede Generation hat ihre Leichen im Keller, diesmal geht es noch einmal um den Nationalsozialismus. Sehr oft darf man das unter der Rubrik „ehrenwert“ablegen, doch Sukare ist eine Bohrmeisterin, die Schutzwände der Schweigekultur zu durchlöchern weiß, dass sie formal eine Lösung braucht, um nicht mit moralischer Resteverwertung vorliebzunehmen.
Über vier Generationen zieht sich der Prozess der Wahrheitsfindung. In jeder nimmt er an Brisanz zu. Mehr als eine Teilwahrheit
ist nicht herauszubekommen, die aber ist verstörend genug. August
Rechermacher heißt das Phantom, dessen Vergangenheit so nebelverhangen sich darstellt. Sein Sohn schweigt, behält sein Wissen nicht
nur für sich, sondern versucht die Erinnerung an den Vater zu tilgen.
Die Enkelin ahnt allenfalls, dass einiges schiefgelaufen ist in einer
Familie, die sich das Reden über die Vergangenheit versagt hat. Sie schafft es nicht, zum Kern des Geheimnisses vorzudringen, sie holt lieber Erkundungen über ihren Vater ein als über den mysteriösen Großvater.
Darum kümmert sich die Urenkelin, der es zu bunt wird, dass sie sich auf eigene Faust das Material
besorgt, das ihr ein Bild über ihren Urgroßvater möglich macht. „Unter meinen Vorfahren hatte ich keine Täter vermutet“, meinte sie einmal, die Ernüchterung folgt bald. Wenn sich ein Leben in Gschichterln und Episoden aufzulösen beginnt, ist immer Vorsicht geboten. Dann gehen Zusammenhänge verloren und rührende Erlebnisse stehen für das
Wesen einer Person. Maia sucht die Nüchternheit der Archive. Maia, die
Urenkelin, ist eine Unzufriedene,
die Klarheit schaffen will, Nelli, die Enkelin, eine Verdrängerin und Vermeidungskünstlerin des Unangenehmen. Was sie in einer Begegnung mit einem Jugendfreund des
Vaters über diesen erfährt, ist jedenfalls zwiespältig. Er drückte sich
in der Hitlerjugend um Keilereien, war kein Eiferer. Dennoch beging er
Verrat, als er einmal zwei Fremde, die genaue Auskünfte einholten, an den Lehrer verriet. Sie wurden als Spione verhaftet.
Der eigentliche Problemfall ist aber Herr Rechermacher. Er kommt aus kleinsten Verhältnissen, bringt es dank seiner Fähigkeit, mit Pferden umzugehen, zum Dragoner. Das
ist die herzergreifende Seite eines Lebens. Im Zweiten Weltkrieg erweist er sich als „Knecht in Uniform“, er „verstand, sich zu fügen ins Befohlene“. Er wird nach Freiburg versetzt, wird Aufseher im Wehrmachtsgefängnis. Dort werden Wehrmachtsangehörige untergebracht, die sich etwas haben zuschulden kommen lassen, sei es aus
religiösen oder oppositionellen Gründen, sei es aus Nachlässigkeit.
Wie sich Rechermacher dort verhalten hat, wie er seine plötzliche Macht über Staatsgegner diese hat spüren lassen, lässt sich nicht nachprüfen.
Chronologisch lässt sich das nicht erzählen, wenn der Autorin etwas wichtiger ist als die fein säuberlich geordnete Perlenschnur der Ereignisse. Sie geht nicht linear vor, sondern dehnt den Roman in die
Fläche aus. Nicht das Leben von
August Rechermacher wird erzählt, sondern wie die nächsten Generationen auf ihn reagieren. Das bewirkt die Sprunghaftigkeit, die sich dem klassischen Kontinuitätsgesetz einer Biografie, wonach ein Ereignis aus einem anderen folgt, widersetzt. Das ist ein Roman, der Suchbewegungen simuliert, mit wechselndem Fokus veränderte Schwerpunkte setzt.
Mit Irritierendem wartet Sukare auch dieses Mal wieder auf. Ernst Pickl hätte drei Jahre Gefängnis in Freiburg verbüßen sollen, flüchtete
jedoch. Wieder gefasst, wird er durch Oberstabsrichter Dr. Erich Peyrer-Heimstätt zum Tode verurteilt und für wehrunwürdig erklärt. Der Richter „war Gründungsmitglied und Präsident des Vereins der Freunde der Salzburger Festspiele
und Ehrenmitglied des Kuratoriums der Internationalen Stiftung Mozarteum, die 1977 verspricht, sie
werde ihm stets ein ehrendes Andenken bewahren“. Wer sagt, dass Geschichte tot ist?