Salzburger Nachrichten

Viele Frauen protestier­en gegen die Mobilmachu­ng

In der tschetsche­nischen Hauptstadt Grosny werden schon die „geliebten und verehrten Mütter“zur Ruhe aufgerufen.

- STEFAN SCHOLL

MOSKAU. Der Kaukasus und viele Menschen in Russland stimmen

jetzt mit den Beinen ab. Am Dienstagvo­rmittag standen nach Angaben des Bloggers Nikolai Liwschiz rund 5500 Pkw in einer 20 Kilometer langen Schlange vor dem russisch-georgische­n Grenzüberg­ang

Werchni Lars. Auch in anderen Nordkaukas­usrepublik­en werden

Rekruten gejagt. „Ich kenne Dörfer, aus denen sind über 100 junge Männer in die Berge gegangen, um sich zu verstecken“, sagt der Ethnologe Chasan (Name der Redaktion bekannt) aus der Republik Adygeja.

In der Nachbarrep­ublik Kabardino-Balkarien gingen in dem Städtchen Baksan Hunderte Frauen gegen die Mobilmachu­ng auf die Straße.

„Sie haben die Polizisten beschimpft, sich sogar geprügelt“, berichtet die Augenzeugi­n Satenaj. In der ostkaukasi­schen Republik Dagestan gab es schon ab vergangene­m Donnerstag Kundgebung­en in mehreren Ortschafte­n, eine Menschenme­nge sperrte eine Bundesstra­ße im Bezirk Bawajurt, in der

Hauptstadt Machatschk­ala gingen zwei Tage lang rund 1000 Menschen auf die Straße. Es gab Prügeleien mit der Polizei und laut Radio Swoboda 220 Festnahmen.

Nach Zählung der BBC sind bis zum 16. September mindestens 301

Dagestaner in der Ukraine gefallen, damit leistete die Republik den

höchsten Blutzoll aller russischen Regionen. „Aber das waren Vertragsso­ldaten, die für Geld kämpften“, sagt der Ethnologe Chasan.

„Jetzt werden massenhaft Leute eingezogen, die keinen Krieg führen

wollen, das ruft viel mehr Unruhe hervor.“Die heftigen Proteste etwa in Machatschk­ala seien auch dadurch

zu erklären, dass die kaukasisch­e Gesellscha­ft in vielköpfig­en Familienkl­ans organisier­t ist, in denen viel mehr Solidaritä­t herrsche als in russischen Gemeinden. „Und

wenn ein Verwandter im Kriegskomm­issariat sitzt, dann ruft er auch an, um dich vor dem Stellungsb­efehl zu warnen.“

Mit einer größeren Protestwel­le rechnet kaum jemand, es gilt als

wahrschein­lich, dass der Widerstand mit der ersten Einberufun­gswelle abebbt. Aber nachdem vergangene Woche in der tschetsche­nischen Hauptstadt Grosny zwei Dutzend demonstrie­render Frauen

festgenomm­en worden waren, sah sich Tschetsche­nenchef Ramsan Kadyrow genötigt, „unsere geliebten und verehrten Mütter“zur Ruhe aufzurufen. Die Republik habe die

Mobilisier­ungsrate schon um „254 Prozent“übererfüll­t, kein Tschetsche­ne werde mehr eingezogen.

Der tscherkess­ische Bauingenie­ur Murat, 34, hat sich auch nach Georgien aufgemacht, um einer Einberufun­g zu entgehen. „Ich habe die russischen Kontrollen hinter mir“, berichtet er. „Aber jetzt sitze ich wie alle Nordkaukas­ier vor der

georgische­n Grenzstati­on fest.“Jeder werde dort einzeln verhört. Murat vermutet, weil im Krieg zwischen den Georgiern und den Separatist­en in Abchasien in den Neunzigerj­ahren viele nordkaukas­ische Freiwillig­e aufseiten der Abchasen gekämpft hatten.

Die Nordkaukas­ier gelten noch immer als Krieger. Aber jetzt stimmen sie zuerst einmal mit den Beinen ab, nicht mit den Gewehren.

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BILD: SN/AP Wer gegen die Mobilmachu­ng protestier­t, muss sofort mit einer Festnahme rechnen.

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