Viele Frauen protestieren gegen die Mobilmachung
In der tschetschenischen Hauptstadt Grosny werden schon die „geliebten und verehrten Mütter“zur Ruhe aufgerufen.
MOSKAU. Der Kaukasus und viele Menschen in Russland stimmen
jetzt mit den Beinen ab. Am Dienstagvormittag standen nach Angaben des Bloggers Nikolai Liwschiz rund 5500 Pkw in einer 20 Kilometer langen Schlange vor dem russisch-georgischen Grenzübergang
Werchni Lars. Auch in anderen Nordkaukasusrepubliken werden
Rekruten gejagt. „Ich kenne Dörfer, aus denen sind über 100 junge Männer in die Berge gegangen, um sich zu verstecken“, sagt der Ethnologe Chasan (Name der Redaktion bekannt) aus der Republik Adygeja.
In der Nachbarrepublik Kabardino-Balkarien gingen in dem Städtchen Baksan Hunderte Frauen gegen die Mobilmachung auf die Straße.
„Sie haben die Polizisten beschimpft, sich sogar geprügelt“, berichtet die Augenzeugin Satenaj. In der ostkaukasischen Republik Dagestan gab es schon ab vergangenem Donnerstag Kundgebungen in mehreren Ortschaften, eine Menschenmenge sperrte eine Bundesstraße im Bezirk Bawajurt, in der
Hauptstadt Machatschkala gingen zwei Tage lang rund 1000 Menschen auf die Straße. Es gab Prügeleien mit der Polizei und laut Radio Swoboda 220 Festnahmen.
Nach Zählung der BBC sind bis zum 16. September mindestens 301
Dagestaner in der Ukraine gefallen, damit leistete die Republik den
höchsten Blutzoll aller russischen Regionen. „Aber das waren Vertragssoldaten, die für Geld kämpften“, sagt der Ethnologe Chasan.
„Jetzt werden massenhaft Leute eingezogen, die keinen Krieg führen
wollen, das ruft viel mehr Unruhe hervor.“Die heftigen Proteste etwa in Machatschkala seien auch dadurch
zu erklären, dass die kaukasische Gesellschaft in vielköpfigen Familienklans organisiert ist, in denen viel mehr Solidarität herrsche als in russischen Gemeinden. „Und
wenn ein Verwandter im Kriegskommissariat sitzt, dann ruft er auch an, um dich vor dem Stellungsbefehl zu warnen.“
Mit einer größeren Protestwelle rechnet kaum jemand, es gilt als
wahrscheinlich, dass der Widerstand mit der ersten Einberufungswelle abebbt. Aber nachdem vergangene Woche in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny zwei Dutzend demonstrierender Frauen
festgenommen worden waren, sah sich Tschetschenenchef Ramsan Kadyrow genötigt, „unsere geliebten und verehrten Mütter“zur Ruhe aufzurufen. Die Republik habe die
Mobilisierungsrate schon um „254 Prozent“übererfüllt, kein Tschetschene werde mehr eingezogen.
Der tscherkessische Bauingenieur Murat, 34, hat sich auch nach Georgien aufgemacht, um einer Einberufung zu entgehen. „Ich habe die russischen Kontrollen hinter mir“, berichtet er. „Aber jetzt sitze ich wie alle Nordkaukasier vor der
georgischen Grenzstation fest.“Jeder werde dort einzeln verhört. Murat vermutet, weil im Krieg zwischen den Georgiern und den Separatisten in Abchasien in den Neunzigerjahren viele nordkaukasische Freiwillige aufseiten der Abchasen gekämpft hatten.
Die Nordkaukasier gelten noch immer als Krieger. Aber jetzt stimmen sie zuerst einmal mit den Beinen ab, nicht mit den Gewehren.