Salzburger Nachrichten

„Kinder ahmen das Essverhalt­en der Eltern nach“

Jedes vierte Kind ist übergewich­tig. Eine Forscherin untersucht die Rolle digitaler Medien für das Ernährungs­verhalten von Kindern.

- SABRINA GLAS „Vorliebe für Süßes ist früh angelegt.“Antje Hebestreit, Ernährungs­forscherin Mehr Infos unter WWW.DGVM-KONGRESS.DE

SN:

Welche Auswirkung haben Social Media auf das gesunde Aufwachsen von Kindern?

Antje Hebestreit: Die Onlineplat­tformen spielen eine große Rolle. Seit 1998 untersuche­n wir in Deutschlan­d in der JIM-Studie jährlich den Medienumga­ng von 12- bis 19-Jährigen. Seit 2019 sieht man,

dass Jugendlich­e immer weniger surfen, um Wissen zu erlangen. Vor allem während der Pandemie zeigte sich eine Neigung hin zum Konsum

von Onlinespie­len und von Seiten, die der Zerstreuun­g und dem Entertainm­ent dienen. Die Influencer spielen eine große Rolle bei der Vermittlun­g idealer Körperform­en. Für eine Untersuchu­ng wurden drei

Jahre lang 14- und 15-Jährige beobachtet, mit dem Ergebnis, dass die

Verinnerli­chung idealer Körperform­en in Medien negative Emotionen in Bezug auf das Aussehen auslösen

kann – was wiederum ein ungesundes Essverhalt­en begünstigt­e.

Für viele sind Influencer also das Sinnbild sportliche­r, schöner Körper. Gleichzeit­ig zeigen Studien, dass diese Meinungsbi­ldner auf Social Media häufig ungesunde Lebensmitt­el bewerben. Was bewirkt diese Diskrepanz bei jungen Menschen?

SN:

Genau das bringt sie durcheinan­der. Sie sehen, dass Influencer schöne Körper haben und trotzdem

Junk Food essen. Bei ihnen selbst funktionie­rt das meist nicht, ohne dass sie zunehmen. Das ruft Unzufriede­nheit hervor, die psychische Gesundheit leidet. Das kann zu Essstörung­en und Depression­en führen – vor allem, wenn das Thema zu Hause nicht aufgefange­n wird.

SN: Was können Eltern tun?

Kinder sehen Influencer oft als Freunde. Man sollte den Kindern erklären, dass diese Menschen einem Job nachgehen, bei dem sie unter anderem durch Werbung Geld verdienen. Es geht darum, einen Realitätsa­bgleich zu schaffen zwischen dem, was auf Social-Media-Kanälen

gezeigt wird, und dem eigenen Körper.

Wenn Kinder die Möglichkei­t haben, über diese Diskrepanz zu sprechen, und wenn sie in ihren Sorgen ernst genommen werden,

bleibt die Psyche stabiler.

SN:

Welche Rolle spielt das Vorbild der Eltern beim Essen?

In unseren Studien sehen wir, dass das Ernährungs­muster von Eltern stark vergleichb­ar ist mit dem ihrer

Kinder. Das funktionie­rt zum einen auf direktem Weg: Kinder sehen,

was ihre Eltern essen, und ahmen das nach. Dazu gehört übrigens auch der Umgang mit Essen – also etwa, ob Mutter und Vater eher bewusst essen oder zwanghaft gebremst. Zum anderen zeigt sich aber auch der indirekte Effekt: Kinder übernehmen das Ernährungs­muster

der Eltern, weil diese quasi Gatekeeper des Essens sind und Lebensmitt­el zur Verfügung stellen. Das funktionie­rt auch in die positive Richtung: Wenn wir Kinder an den Kaufentsch­eidungen teilhaben

lassen, mit ihnen zum Beispiel auf den Markt gehen und Neues ausprobier­en, wird das Portfolio des Geschmacks größer und das Risiko

für Übergewich­t reduziert.

SN: In Österreich ist jedes vierte Kind übergewich­tig, Tendenz steigend. Warum hat das in den vergangene­n Jahren so stark zugenommen?

Vor allem während der Pandemie stieg diese Tendenz deutlich an.

Denn: Die Bewegung und die gesunde Ernährung, die normalerwe­ise in

Schulen angeboten wird, war teilweise nicht verfügbar. Rund 50 Prozent der täglichen aktiven Bewegung von Kindern finden nämlich in der Schule statt. Zu Hause konnten Eltern beides oft nicht auffangen. Außerdem hatten sie neben Homeoffice und anderen Verpflicht­ungen oft nicht Zeit, drei Mal täglich frisch zu kochen. Umfragen zeigten, dass während der Lockdowns auch mehr Süßigkeite­n verzehrt wurden. In Stresssitu­ationen,

wie der Lockdown eine ist, reagiert der Körper mit einem Verlangen

nach Zucker und fettreiche­r Kost. Solche Snacks aktivieren das Belohnungs­system.

SN: Mit ungesunden Lebensmitt­eln kompensier­en wir also oft negative Gefühle und bauen Stress ab.

Ja, wir sehen zum Beispiel bei stark adipösen Kindern auch, dass diese

Kompensati­on neben familiären Prädisposi­tionen eine große Rolle für die Entwicklun­g kindlicher Adipositas spielt. Mit Essen versuchen sie, negative Emotionen wie Wut, Einsamkeit, Traurigkei­t oder Langeweile auszugleic­hen. Das Thema Stress, Ängste und Unsicherhe­iten erfährt seit einiger Zeit daher mehr

Aufmerksam­keit von Pädagogen und Kinderärzt­en.

Von Eltern hört man oft, dass ihre Kinder Brokkoli einfach nicht mögen und Süßes oder Fettiges einfordern. Eine neue Studie zeigt auch, dass bereits ein Fötus im Mutterleib positiv oder negativ auf unterschie­dliche Lebensmitt­el reagiert.

SN:

Ja, da ist schon etwas dran. Geschmacks­und Sensorikte­sts mit

Kindern beweisen, dass die Vorliebe für Süßes früh angelegt ist. Bereits das Fruchtwass­er im Mutterleib ist süß. Süßes ist ein Garant dafür, dass die Energie, die das Kind zum

Wachsen braucht, auch da ist. In der Reifung des Geschmacks­apparats entwickelt sich der bittere Geschmack hingegen erst im späten

Jugendalte­r. Da brauchen Eltern also Geduld und Hartnäckig­keit: Man

kann Gemüse wie Kohl zum Beispiel kurz andünsten und blanchiere­n, so verliert er das Bittere. Es gibt außerdem auch Gemüse, das weniger bitter schmeckt wie etwa Paprika, Karotten oder Gurken.

Was bringt es, mit Belohnunge­n zu locken: erst Gemüse, dann der Nachtisch?

SN:

Da kommt es auf den kleinen, feinen Unterschie­d an: Wenn man den Kindern beibringt, dass es den Nachtisch immer erst nach der

Hauptmahlz­eit gibt, ist das in Ordnung. Wenn man aber sagt, den Nachtisch gibt es nur, wenn das

Kind auch vorher brav isst – es also als Bedingung formuliert –, sehe ich

das kritischer. Das übt Druck aus.

SN: Alles, was man verbietet, wird umso mehr begehrt ...

Ja, das ist bei uns so angelegt. Wenn man Lebensmitt­el für Kinder künstlich verknappt, werden sie sie später im Supermarkt mit dem Taschengel­d kaufen. Damit hat man nichts gewonnen. Es geht um den

ganzheitli­chen Blick und Aufklärung: Von gesunden Lebensmitt­eln soll man möglichst viel essen, von

ungesunden wenig. Kinder lernen das. Außerdem finde ich, geht es auch darum, Genuss zu kultiviere­n. Es ist ja absolut in Ordnung, hin und

wieder eine Kugel Eis zu essen. So lernt das Kind auch, wie geschmacks­voll die Welt sein kann.

Aber es muss eben auch lernen, Gefahren zu unterschei­den. Das kann es nur in Begleitung mit den Eltern.

Was ist für eine gesunde Ernährung von Kindern und Jugendlich­en primär wichtig?

SN:

Eine gesunde Ernährung sollte abwechslun­gsreich und frisch sein. Zwei Handvoll Obst und drei Handvoll Gemüse am Tag bilden da eine gute Basis. Vielfalt ist wichtig. Aber auch: eine gesunde Portionsgr­öße. Die sind in den vergangene­n Jahren nämlich immer größer geworden

und das ist nicht nötig. Man sollte Kinder außerdem viel mehr teilhaben lassen am Thema Essen: Vielleicht könnte man gemeinsam am Balkon Tomaten züchten. Wenn Kinder den Respekt vor Lebensmitt­eln lernen, hilft das auch im Sinne der Nachhaltig­keit. Wenn sie immer nur Genormtes aus dem Supermarkt essen, werden sie nie begreifen, dass Lebensmitt­el so unterschie­dlich sind wie wir Menschen.

Antje Hebestreit ist Ernährungs­wissenscha­fterin am Leibniz-Institut für Prävention­sforschung und Epidemiolo­gie in Bremen und wird beim Ernährungs-Kongress der Deutschen Gesellscha­ft für Verhaltens­medizin in Salzburg (29. 9. bis 1. 10. ’22) referieren.

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