Warum sie sich die Haare abschneiden
Im Iran greifen viele Frauen zur Schere, um ihre Trauer nach Mahsa Aminis Tod sichtbar zu machen. An ihrer Seite: solidarische Männer.
WIEN, TEHERAN. Mahsa war 22 Jahre jung. Zu Herbstbeginn mit ihrer Familie aus der Kleinstadt Saqqez in der Provinz Kurdistan nach Teheran
gekommen, wollte sie dort ein paar freie Tage verbringen. Die Hauptstadt wurde ihr auf grausamste Weise zum Verhängnis. Die Sittenpolizei nahm sie fest, weil sie ihr Kopftuch nicht nach Vorschrift getragen
hatte. Drei Personen – zwei Männer und eine Frau – waren an ihrer Festnahme beteiligt. „Ich bin fremd
hier“, hatte Mahsa ihnen erklärt. „Lassen Sie mich gehen.“Doch ihre Bitte wurde nicht gehört. Mahsa
wurde in ein Fahrzeug des Ministeriums für Kultur und Islamische Führung verfrachtet und in ein Gefängnis gebracht. Eine halbe Stunde
nach ihrer Verhaftung brachte man sie ins Krankenhaus, drei Tage später wurde die Meldung von ihrem
Tod verbreitet. Seither geht ein Aufschrei
durch den Iran. Landesweit
gehen Menschen auf die Straße. Gorji Marzban (60) ist Exil-Iraner
und lebt in Wien.
Ich würde gerne mit einer Frau im Iran sprechen. Können Sie mir weiterhelfen?
SN:
Gorji Marzban: Das ist unmöglich.
Wer nicht auf der Straße ist, wartet daheim auf seine Verhaftung. Eine
Anfrage bringt jede und jeden in Gefahr. Selbst mit meinen Freunden spreche ich nicht. Sie schicken Nachrichten ohne Inhalt, nur um zu sagen: „Wir sind noch da.“
Mahsa Amini ist nicht die erste Frau, gegen die die Sittenpolizei brutal vorgegangen ist. Was hat den Protest jetzt ausgelöst? Was ist anders?
SN:
Sie haben einem Mädchen in der Öffentlichkeit ins Haar gegriffen, sie ins Auto gezogen und am Abend
war sie tot. Es gab viele Augenzeugen.
Das kann man nicht vernebeln oder eine andere Geschichte erzählen. Was im Iran derzeit passiert, ist nahe dran an einem Bürgerkrieg. Der weibliche Bezug ist stark präsent. Aber auch die Männer schauen nicht mehr weg. Lang hat man sich gefragt, wieso die Männer so
passiv sind, warum sie das zulassen. Jetzt haben viele endlich begriffen, in welchem Ausmaß die Frauen Opfer des Systems sind. Es ist ein AntiRegime-Protest geworden, der den Machtapparat destabilisiert. Der schlägt zurück und zeigt: „Entweder ihr pariert oder ihr werdet sterben.“Es ist diese Art von Willkür, die das letzte Gefühl von Sicherheit
weggeblasen hat. Jede und jeder kann Opfer sein. Es gibt keine Untersuchungskommission.
SN: Womit müssen Frauen im Iran leben?
Eine Frau, die im Iran geboren wird,
lernt, viele Entbehrungen zu ertragen. Sie ist sozialisiert, sich zu unterwerfen. Aber man lebt im Iran
natürlich nicht auf einer Insel. Durch das Internet weiß jeder und
jede, dass es anderswo anders ist. Dass die Verbotsgesellschaft, in der sie aufgewachsen sind, nicht ohne
Alternative ist. Die Verbote beginnen in der Ehe, beim Studieren, bei der Kleidung, bei der Frage, mit
wem man sich trifft. Im iranischen Rechtssystem zählt die Stimme der Frau nur halb so viel wie die eines Mannes. Seit mehr als 40 Jahren ist die strenge Kleiderordnung für Frauen im Iran Pflicht. Genauso
lang haben Frauen im Iran versucht sich anzupassen. Mahsa hat nichts falsch gemacht an diesem Tag, sie
hatte einfach Pech. Ein Mal im Monat schickt das Regime die Moralpolizei
los und sagt: „Macht, was ihr wollt.“Die Leute sollen daran erinnert werden, wer das Sagen hat.
SN: Viele Frauen im Iran, aber auch in anderen Teilen der Welt schneiden sich nun in der Öffentlichkeit die Haare ab. Warum?
Es ist ein Akt der Verzweiflung. Und der Selbsterniedrigung. Sich die
Haare abzuschneiden ist ein Zeichen der Trauer. Man trennt sich
von etwas, das einem teuer ist. Es ist etwas sehr Intimes. Die Haarpracht einer Frau ist Teil ihrer Ästhetik, ihrer Weiblichkeit. Im Iran werden Frauen attackiert, weil sie schöne
Haare haben. (Gorjis Stimme bricht). – Ich leide mit, aber ich bin
Zuschauer. Die Haare sind Ausdruck der Persönlichkeit, des Menschseins. Mit Zwang zu verordnen, sie zu verstecken, ist furchtbar.
Verstehen Sie mich nicht falsch: Wenn Sie Frauen hier sehen, die sich bedecken, muss man ihnen das
lassen – aber sie sollen sich frei entscheiden können. Westliche Politikerinnen, die bei einem Besuch im Iran Kopftuch tragen sollen? Hallo?
SN: Am Mittwoch wurde auch Faezeh Hāschemi, die Tochter des iranischen Ex-Präsidenten
Ali Akbar Haschemi Rafsandschāni, festgenommen.
Sie hat die Frauenproteste unterstützt. Der Protest ist
groß, was wird er bewegen?
Ich kann den Ausgang nicht sehen.
Aber jeder Mensch hat eine Entscheidung.
Gorji Marzban ist Naturwissenschafter, Künstler und Menschenrechtsaktivist. Die iranische Botschaft rufe offenbar dazu auf, Demonstranten im
Ausland zu melden, sagt er am Ende unseres Gesprächs. Das ändere für ihn nichts. Es sei das Geringste, was er beitragen könne.