„Wir müssen die Drohung ernst nehmen“
„Das ist kein Bluff“, sagte Russlands Präsident Putin und drohte abermals, Atomwaffen einzusetzen. Ist das Drohkulisse – oder reale Bedrohung?
Was will Wladimir Putin mit seinen erneuten Nukleardrohungen bewirken?
SN:
Liviu Horovitz: Die Logik dieser
Atomdrohungen ist seit Beginn des Kriegs die gleiche: Auf der einen Seite scheint Russland zu wollen, dass die NATO sich aus dem Konflikt raushält.
Auf der anderen Seite will Putin Unsicherheit bei westlichen Entscheidungsträgern erzeugen. Auch
wenn solche Drohungen nicht sehr glaubwürdig sind, muss man sie ernst nehmen. Dementsprechend
müssen Regierungen Risiken genau abwägen und Entscheidungsprozesse ziehen sich in die Länge. So
kann Moskau die westlichen Waffenlieferungen
zumindest verzögern.
Mit den Pseudoreferenden scheint sich die Situation zu verändern. Wenn Moskau sich die besetzten Gebiete einverleibt, dann wäre jeder Versuch der Ukraine, diese wieder zurückzuerobern, aus Putins Sicht ein Angriff auf russisches Gebiet. Macht das den Einsatz von Atomwaffen wahrscheinlicher?
SN:
Ich glaube nicht, dass der Einsatz
von Atomwaffen dadurch wahrscheinlicher wird. Man kann das Territorium nennen, wie man will,
letztendlich handelt es sich dabei um besetztes Gebiet, das Russland
kaum kontrolliert. Putin kann fünf
Mal sagen: „Das ist kein Bluff“, seine Glaubwürdigkeit erhöht sich dadurch nicht.
Allerdings kann Moskau damit wieder Unsicherheit erzeugen – und darauf hoffen, dass sich die andere Seite einschüchtern lässt.
Wie sollte der Westen mit den Nukleardrohungen aus Moskau umgehen?
SN:
Bisher können wir beobachten, dass die westlichen Staaten sich sehr
langsam an die möglichen Reaktionen herantasten. Sie stellen sich Fragen, wie: Welche Waffen können
wir liefern, welche Sanktionen verhängen – ohne dass Russland weiter eskaliert?
Und obschon die westlichen Waffenlieferungen in die Ukraine in den vergangenen sieben Monaten zugenommen haben, hat Russland sehr vorsichtig reagiert. Das ist ein Anhaltspunkt dafür, welche roten Linien in Moskau tatsächlich existieren – und welche roten Linien de facto erfunden sind.
SN: Zusammengefasst: Wladimir Putin nutzt das russische Atomwaffenarsenal als Drohkulisse – einen Einsatz von Nuklearwaffen halten Sie jedoch für unwahrscheinlich. Ist das korrekt?
Ja, es würde aus russischer Sicht keinen Sinn ergeben. Denn man kann mit Atomwaffen in so einem Krieg mit einer Frontlinie von Tausenden
von Kilometern nicht viel bewirken. Letztendlich sind Atomwaffen sehr
große Bomben und die Vorteile, die
Russland aus ihrem Einsatz im Schlachtfeld ziehen könnte, stehen
in keinem Verhältnis zu den politischen Konsequenzen. Dementsprechend sagen auch fast alle Experten, die ich kenne: Ein russischer
Atomschlag ist höchst unwahrscheinlich. Nur muss man sich bewusst sein: Die Konsequenzen eines Nuklearkriegs wären unglaublich dramatisch. Daher müssen wir die
Drohung ernst nehmen.
Zur Person: Liviu Horovitz ist Sicherheitsexperte, spezialisiert auf nukleare Bedrohungen. Er forscht an der Stiftung Wissenschaft und Politik.