Salzburger Nachrichten

Putins Fassade vom siegreiche­n Krieg bröckelt

Die Teilmobili­sierung war das Geständnis, dass in der Ukraine nichts nach Plan läuft. Annexionen sollen dem Kreml nun Luft verschaffe­n.

- LEITARTIKE­L Stephanie Pack-Homolka STEPHANIE.PACK@SN.AT

Der Kremlchef lebt seit Jahren in seiner eigenen Welt. Nicht nur räumlich während der Pandemie, als er sich von der Außenwelt abschottet­e, sondern auch geistig und politisch. In Wladimir Putins Welt gibt es keine integre Politik, keine Moral und

keinen Verlass auf internatio­nales Recht. In dieser Welt gehören die

ukrainisch­en Gebiete Donezk, Cherson, Luhansk und Saporischs­chja seit Freitag zu Russland.

Die Annexion ist freilich eine Farce. Sie ist ein klarer Völkerrech­tsbruch und wird von der Weltgemein­schaft nicht anerkannt. Diese Annexion habe „keinen Platz in der modernen Welt“, sagte UN-Generalsek­retär António Guterres.

Und doch zieht Russland seine formelle Einverleib­ung der ukrainisch­en Gebiete durch.

Moskau folgt damit einem Drehbuch, das allzu vorhersehb­ar war. 2014 war es noch eine böse Überraschu­ng, als die „grünen Männchen“

plötzlich auf der Krim auftauchte­n und der Krieg im Donbass losbrach. Europa und seine Verbündete­n hatten es nicht für möglich gehalten, dass ein solcher Bruch der gemeinsame­n Vorstellun­g vom Zusammenle­ben auf dem Kontinent in diesem Jahrtausen­d möglich wäre.

Mittlerwei­le gilt nichts mehr als unmöglich. Wir befassen uns mit der Frage, ob ein russischer Atomschlag eine wahrschein­liche Option ist. Und damit, ob es der Ukraine gelingen kann, irgendwann wieder die Herrschaft über ihr gesamtes eigenes Staatsgebi­et zu haben.

Welche Antworten wir finden, daran ändert die jetzige Annexion nur teilweise etwas. Ein russischer

Atomschlag wird nicht wahrschein­licher. Zwar hat Putin angekündig­t, ein Angriff auf die betroffene­n Gebiete sei fortan ein Angriff auf Russland. Aber was wäre die Konsequenz? Dass russische Truppen Ukrainerin­nen und Ukrainer angreifen, beschießen, töten? Das ist

leider nicht neu. Das ist der Krieg, den Russland seit 24. Februar führt.

Wenn Putin seinen Angriffskr­ieg nun in einen Verteidigu­ngskrieg

umzudeuten versucht, ändert das an den militärisc­hen Optionen unmittelba­r nichts. Das zeigte sich auch auf der Krim. Dort haben

ukrainisch­e Angriffe keine andere Reaktion ausgelöst als in anderen

russisch besetzten Gebieten.

Ein Atomschlag bleibt rational gesehen auch für Russland eine schlechte Option. Umso mehr, als

nach russischer Erzählweis­e mit den nun annektiert­en Regionen ja russisches Gebiet selbst betroffen

wäre. Ein Restrisiko bleibt aber: Es heißt Wladimir Putin.

Der Kremlchef ist unberechen­bar. Je ausweglose­r seine Lage ist, je weiter ein Sieg in die Ferne rückt, desto unberechen­barer wird er.

Und die nun eingeleite­te Annexion ist ein Indikator dafür, dass Putins Fassade des erfolgreic­hen Kriegs in der Ukraine gehörig bröckelt.

Die Teilmobili­sierung war das Eingeständ­nis, dass es nicht nach Plan läuft. So wenig nach Plan, dass Putin nun die Masse der Russen mit diesem Krieg behelligen muss, den sie seit Februar möglichst ausgeblend­et hat. Die Erzählung von der „Spezialope­ration“, die den gemeinen Russen nicht direkt betrifft, funktionie­rt nicht mehr.

Die Annexion soll nun den anderen Erzählstra­ng von Putins Mär, die Argumente für den Krieg, stärken: Wir kämpfen in der Ukraine für Russland und für Russen, heißt es. Allein: So viele Flaggen kann der

Kremlchef in Cherson, Luhansk, Donezk und Saporischs­chja gar nicht hissen, als dass diese Gebiete nicht mehr ukrainisch wären.

Die Einheit der Ukraine und ihre Souveränit­ät stehen für den überwiegen­den Teil der Welt nicht infrage. Allen voran nicht für die Ukraine selbst und für ihre größten Verbündete­n, die EU, Großbritan­nien und die USA. An ihnen ist es nun, scharf und geschlosse­n auf die Annexion zu reagieren. Viel schärfer als 2014 auf die Annexion der Krim – und mit Ausdauer.

Waffenlief­erungen, Sanktionen und jede Hilfe, die in der Ukraine

vonnöten ist, werden noch lange gebraucht werden. Denn die Aussicht auf einen Frieden auf dem Verhandlun­gsweg ist mit der jetzigen

Annexion geringer geworden. Putin will wieder Fakten schaffen, wie er es auf der Krim tun wollte: Was einmal als russisch deklariert wurde,

wird Moskau in Verhandlun­gen nicht zur Dispositio­n stellen.

Die Ukraine kann den Krieg nur militärisc­h gewinnen. Im besten Fall mit Schützenhi­lfe aus der russischen Zivilgesel­lschaft – auch

wenn diese „nur“aus Angst um die eigene Haut gegen Putin rebelliert.

Keine Aussicht auf einen Verhandlun­gsfrieden

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WWW.SN.AT/WIZANY Potemkinsc­her Putin . . .

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