Putins Fassade vom siegreichen Krieg bröckelt
Die Teilmobilisierung war das Geständnis, dass in der Ukraine nichts nach Plan läuft. Annexionen sollen dem Kreml nun Luft verschaffen.
Der Kremlchef lebt seit Jahren in seiner eigenen Welt. Nicht nur räumlich während der Pandemie, als er sich von der Außenwelt abschottete, sondern auch geistig und politisch. In Wladimir Putins Welt gibt es keine integre Politik, keine Moral und
keinen Verlass auf internationales Recht. In dieser Welt gehören die
ukrainischen Gebiete Donezk, Cherson, Luhansk und Saporischschja seit Freitag zu Russland.
Die Annexion ist freilich eine Farce. Sie ist ein klarer Völkerrechtsbruch und wird von der Weltgemeinschaft nicht anerkannt. Diese Annexion habe „keinen Platz in der modernen Welt“, sagte UN-Generalsekretär António Guterres.
Und doch zieht Russland seine formelle Einverleibung der ukrainischen Gebiete durch.
Moskau folgt damit einem Drehbuch, das allzu vorhersehbar war. 2014 war es noch eine böse Überraschung, als die „grünen Männchen“
plötzlich auf der Krim auftauchten und der Krieg im Donbass losbrach. Europa und seine Verbündeten hatten es nicht für möglich gehalten, dass ein solcher Bruch der gemeinsamen Vorstellung vom Zusammenleben auf dem Kontinent in diesem Jahrtausend möglich wäre.
Mittlerweile gilt nichts mehr als unmöglich. Wir befassen uns mit der Frage, ob ein russischer Atomschlag eine wahrscheinliche Option ist. Und damit, ob es der Ukraine gelingen kann, irgendwann wieder die Herrschaft über ihr gesamtes eigenes Staatsgebiet zu haben.
Welche Antworten wir finden, daran ändert die jetzige Annexion nur teilweise etwas. Ein russischer
Atomschlag wird nicht wahrscheinlicher. Zwar hat Putin angekündigt, ein Angriff auf die betroffenen Gebiete sei fortan ein Angriff auf Russland. Aber was wäre die Konsequenz? Dass russische Truppen Ukrainerinnen und Ukrainer angreifen, beschießen, töten? Das ist
leider nicht neu. Das ist der Krieg, den Russland seit 24. Februar führt.
Wenn Putin seinen Angriffskrieg nun in einen Verteidigungskrieg
umzudeuten versucht, ändert das an den militärischen Optionen unmittelbar nichts. Das zeigte sich auch auf der Krim. Dort haben
ukrainische Angriffe keine andere Reaktion ausgelöst als in anderen
russisch besetzten Gebieten.
Ein Atomschlag bleibt rational gesehen auch für Russland eine schlechte Option. Umso mehr, als
nach russischer Erzählweise mit den nun annektierten Regionen ja russisches Gebiet selbst betroffen
wäre. Ein Restrisiko bleibt aber: Es heißt Wladimir Putin.
Der Kremlchef ist unberechenbar. Je auswegloser seine Lage ist, je weiter ein Sieg in die Ferne rückt, desto unberechenbarer wird er.
Und die nun eingeleitete Annexion ist ein Indikator dafür, dass Putins Fassade des erfolgreichen Kriegs in der Ukraine gehörig bröckelt.
Die Teilmobilisierung war das Eingeständnis, dass es nicht nach Plan läuft. So wenig nach Plan, dass Putin nun die Masse der Russen mit diesem Krieg behelligen muss, den sie seit Februar möglichst ausgeblendet hat. Die Erzählung von der „Spezialoperation“, die den gemeinen Russen nicht direkt betrifft, funktioniert nicht mehr.
Die Annexion soll nun den anderen Erzählstrang von Putins Mär, die Argumente für den Krieg, stärken: Wir kämpfen in der Ukraine für Russland und für Russen, heißt es. Allein: So viele Flaggen kann der
Kremlchef in Cherson, Luhansk, Donezk und Saporischschja gar nicht hissen, als dass diese Gebiete nicht mehr ukrainisch wären.
Die Einheit der Ukraine und ihre Souveränität stehen für den überwiegenden Teil der Welt nicht infrage. Allen voran nicht für die Ukraine selbst und für ihre größten Verbündeten, die EU, Großbritannien und die USA. An ihnen ist es nun, scharf und geschlossen auf die Annexion zu reagieren. Viel schärfer als 2014 auf die Annexion der Krim – und mit Ausdauer.
Waffenlieferungen, Sanktionen und jede Hilfe, die in der Ukraine
vonnöten ist, werden noch lange gebraucht werden. Denn die Aussicht auf einen Frieden auf dem Verhandlungsweg ist mit der jetzigen
Annexion geringer geworden. Putin will wieder Fakten schaffen, wie er es auf der Krim tun wollte: Was einmal als russisch deklariert wurde,
wird Moskau in Verhandlungen nicht zur Disposition stellen.
Die Ukraine kann den Krieg nur militärisch gewinnen. Im besten Fall mit Schützenhilfe aus der russischen Zivilgesellschaft – auch
wenn diese „nur“aus Angst um die eigene Haut gegen Putin rebelliert.
Keine Aussicht auf einen Verhandlungsfrieden