Annexion auf dem Papier
In einem Festakt annektiert Putin vier ukrainische Gebiete – und wirft dem Westen in seiner Rede Neokolonialismus vor.
MOSKAU. Am Ende legen sie ihre Hände einzeln aufeinander: Russlands Präsident Wladimir Putin und die Besatzungschefs der „Republiken“Donezk und Luhansk sowie der von Russland okkupierten
ukrainischen Gebiete Cherson und Saporischschja. Sie halten sich aneinander fest und schreien: „Russland, Russland!“Als wäre es ein Fußballspiel, bei dem sie ihre Mannschaft antreiben. All die Menschen vor ihnen, Russlands gesamte
politische und religiöse Elite, springen von ihren Stühlen im Georgssaal des Kremls und stimmen mit ein: „Russland, Russland!“
Zuvor besiegelte Putin die Annexion der vier besetzten Gebiete Donezk, Luhansk, Cherson und Saporischschja, nachdem er dort vergangene Woche Scheinreferenden abgehalten hatte. Obwohl die Abstimmungen weltweit nicht anerkannt wurden, sagte Putin am Freitag, die
Annexion sei „der Wille von Millionen Menschen“, die in „ihre historische Heimat zurückzukehren“wollten. Die Bewohner der annektierten
ukrainischen Regionen seien „für immer unsere Bürger“.
Putins Rede sollte feierlich wirken. Letztlich blieb sie eine Attacke
voller Hass auf die USA. Erst attackierte Putin den „Neokolonialismus des Westens“– um danach selbst die Dokumente zur Annexion zu unterschreiben. Für Putin ist das,
was er sagt, und das, was er tut, offenbar kein Widerspruch.
Er hält sich an sein altes Rezept: ein bisschen Homophobie hier, viel
Antiamerikanismus dort. „Wollen wir statt Mama und Papa Elternteil 1 und Elternteil 2 sagen? Wollen wir statt Frauen und Männer irgendein drittes Geschlecht anerkennen?“
Wie all das mit seinem Landraub zusammenhängt, erklärte Putin nicht. Dem Westen bescheinigte er Totalitarismus, Despotismus und
politischen Rassismus. „Sie brauchen Russland nicht, sie wollen es
in Stücke zerbrochen sehen. Wir aber brauchen Russland“, rief er. Laut Putin führt der Westen einen
hybriden Krieg gegen Russland und
ist auch für die Lecks in den NordStream-Pipelines verantwortlich.
Auf dem Roten Platz in Moskau standen am Freitag Tausende Menschen, die mit russischen Fähnchen
den Fernsehkameras zujubelten. „Endlich sind unsere Leute zu Hause“, sagte da so mancher und konnte doch kaum erklären, wer da eigentlich in welchem Zuhause sei.
Jedenfalls veranstaltete der Kreml eine seltsame Annexion. Noch zu Beginn seiner „Spezialoperation“hatte Putin versichert, Moskau plane nicht, ukrainisches Gebiet zu besetzen. Jetzt eignet sich Russland vier Regionen der Ukraine an. Es handelt sich dabei um 109.000 Quadratkilometer – so viel wie Bayern und Baden-Württemberg zusammen. Allerdings nur auf dem Papier. Auf 30 Prozent dieser Gebiete steht nach wie vor die
ukrainische Armee. Wohl zum ers
ten Mal in der Geschichte nimmt ein Staat feierlich Land in Besitz, auf das er keinen Zugriff hat – außer mit Ferngeschossen. International wird die gewaltsame Gebietsnahme ohnehin nicht anerkannt.
Das hinderte Putin nicht daran, die Ukraine und den Westen in seiner Rede dazu aufzurufen, die Kampfhandlungen „sofort einzustellen und den Krieg zu beenden, den Kiew 2014 angefangen hat“. Er
wolle zum Dialog zurück, sonst könne es zu einem „Kollaps“kommen, sagte er und drohte an, die annektierten – er nennt sie „befreiten“
– Gebiete „mit allen Mitteln zu verteidigen“. Von atomaren Waffen spricht er dieses Mal explizit nicht.
Unmittelbar nach der formellen Annexion beantragte die Ukraine am Freitag einen beschleunigten Beitritt zur Militärallianz Nato. Allgemein gilt als Voraussetzung für einen Nato-Beitritt, dass der Beitrittskandidat nicht in internationale Konflikte und Streitigkeiten
um Grenzverläufe verwickelt sein darf.
30 Prozent der Gebiete in ukrainischer Hand