Salzburger Nachrichten

Annexion auf dem Papier

In einem Festakt annektiert Putin vier ukrainisch­e Gebiete – und wirft dem Westen in seiner Rede Neokolonia­lismus vor.

- INNA HARTWICH STEFAN SCHOLL

MOSKAU. Am Ende legen sie ihre Hände einzeln aufeinande­r: Russlands Präsident Wladimir Putin und die Besatzungs­chefs der „Republiken“Donezk und Luhansk sowie der von Russland okkupierte­n

ukrainisch­en Gebiete Cherson und Saporischs­chja. Sie halten sich aneinander fest und schreien: „Russland, Russland!“Als wäre es ein Fußballspi­el, bei dem sie ihre Mannschaft antreiben. All die Menschen vor ihnen, Russlands gesamte

politische und religiöse Elite, springen von ihren Stühlen im Georgssaal des Kremls und stimmen mit ein: „Russland, Russland!“

Zuvor besiegelte Putin die Annexion der vier besetzten Gebiete Donezk, Luhansk, Cherson und Saporischs­chja, nachdem er dort vergangene Woche Scheinrefe­renden abgehalten hatte. Obwohl die Abstimmung­en weltweit nicht anerkannt wurden, sagte Putin am Freitag, die

Annexion sei „der Wille von Millionen Menschen“, die in „ihre historisch­e Heimat zurückzuke­hren“wollten. Die Bewohner der annektiert­en

ukrainisch­en Regionen seien „für immer unsere Bürger“.

Putins Rede sollte feierlich wirken. Letztlich blieb sie eine Attacke

voller Hass auf die USA. Erst attackiert­e Putin den „Neokolonia­lismus des Westens“– um danach selbst die Dokumente zur Annexion zu unterschre­iben. Für Putin ist das,

was er sagt, und das, was er tut, offenbar kein Widerspruc­h.

Er hält sich an sein altes Rezept: ein bisschen Homophobie hier, viel

Antiamerik­anismus dort. „Wollen wir statt Mama und Papa Elternteil 1 und Elternteil 2 sagen? Wollen wir statt Frauen und Männer irgendein drittes Geschlecht anerkennen?“

Wie all das mit seinem Landraub zusammenhä­ngt, erklärte Putin nicht. Dem Westen bescheinig­te er Totalitari­smus, Despotismu­s und

politische­n Rassismus. „Sie brauchen Russland nicht, sie wollen es

in Stücke zerbrochen sehen. Wir aber brauchen Russland“, rief er. Laut Putin führt der Westen einen

hybriden Krieg gegen Russland und

ist auch für die Lecks in den NordStream-Pipelines verantwort­lich.

Auf dem Roten Platz in Moskau standen am Freitag Tausende Menschen, die mit russischen Fähnchen

den Fernsehkam­eras zujubelten. „Endlich sind unsere Leute zu Hause“, sagte da so mancher und konnte doch kaum erklären, wer da eigentlich in welchem Zuhause sei.

Jedenfalls veranstalt­ete der Kreml eine seltsame Annexion. Noch zu Beginn seiner „Spezialope­ration“hatte Putin versichert, Moskau plane nicht, ukrainisch­es Gebiet zu besetzen. Jetzt eignet sich Russland vier Regionen der Ukraine an. Es handelt sich dabei um 109.000 Quadratkil­ometer – so viel wie Bayern und Baden-Württember­g zusammen. Allerdings nur auf dem Papier. Auf 30 Prozent dieser Gebiete steht nach wie vor die

ukrainisch­e Armee. Wohl zum ers

ten Mal in der Geschichte nimmt ein Staat feierlich Land in Besitz, auf das er keinen Zugriff hat – außer mit Ferngescho­ssen. Internatio­nal wird die gewaltsame Gebietsnah­me ohnehin nicht anerkannt.

Das hinderte Putin nicht daran, die Ukraine und den Westen in seiner Rede dazu aufzurufen, die Kampfhandl­ungen „sofort einzustell­en und den Krieg zu beenden, den Kiew 2014 angefangen hat“. Er

wolle zum Dialog zurück, sonst könne es zu einem „Kollaps“kommen, sagte er und drohte an, die annektiert­en – er nennt sie „befreiten“

– Gebiete „mit allen Mitteln zu verteidige­n“. Von atomaren Waffen spricht er dieses Mal explizit nicht.

Unmittelba­r nach der formellen Annexion beantragte die Ukraine am Freitag einen beschleuni­gten Beitritt zur Militärall­ianz Nato. Allgemein gilt als Voraussetz­ung für einen Nato-Beitritt, dass der Beitrittsk­andidat nicht in internatio­nale Konflikte und Streitigke­iten

um Grenzverlä­ufe verwickelt sein darf.

30 Prozent der Gebiete in ukrainisch­er Hand

 ?? ?? „Rossija! Rossija!“– grölt Putin mit den Anführern der von Russland in der Ukraine besetzten Gebiete.
„Rossija! Rossija!“– grölt Putin mit den Anführern der von Russland in der Ukraine besetzten Gebiete.

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