Salzburger Nachrichten

Für den Rest der Welt bist du der Feind

Die 31-jährige Yulia lebt in Moskau und berichtet von einer Gesellscha­ft, die sich nach der Teilmobilm­achung im Schock befindet. Ein Gesprächsp­rotokoll.

- STIMME aus Moskau

In den vergangene­n Tagen hat sich die Stimmung in Moskau durch die Ankündigun­g einer Teilmobilm­achung radikal verändert. Wladimir Putin hat der russischen Bevölkerun­g versproche­n, dass es nie zu einer Mobilmachu­ng kommen werde. Noch eine Woche zuvor hat uns die Regierung gesagt, dass eine Mobilmachu­ng nicht passieren werde. Putin hat uns nicht die

Wahrheit gesagt. Das Vertrauen in ihn und in seine Regierung ist gering. Sie reißen Menschen aus ihrem Alltag heraus und schicken sie an die Front. Das ist sehr beängstige­nd.

Ich weiß nicht, ob ihr das mitbekommt, aber viele versuchen aus Angst, die Rekrutieru­ngsbüros der Armee in Brand zu stecken. An einer Schule ist es vor wenigen Tagen zu einem Massaker gekommen, in der Stadt Rjasan hat sich ein Mann selbst angezündet, weil er nicht an die Front will. Viele verlieren den Verstand. Man hört von Menschen, die das Haus nicht mehr verlassen, ohne sich mit Messern zu bewaffnen. Es gibt viele Gerüchte, die Regierung wolle die Grenzen schließen und niemanden mehr rauslassen. Aber ich glaube nicht, dass die Regierung das tun wird, weil sie die wütenden Reaktionen der Menschen fürchtet.

Es erschütter­t mich, dass so viele meiner Freunde das Land verlassen haben. Und niemand will uns wirklich haben. Es ist nicht gut, Russin oder Russe zu sein in diesen Zeiten. Das eigene Land will dich umbringen, indem es dich an die Front schickt, und für den Rest der

Welt bist du der Feind, die Feindin. Unabhängig davon, ob du Putin unterstütz­t oder nicht. Sogar Länder, die unsere Alliierten zu sein schienen, wie die Türkei oder China, wenden sich von Russland ab. Die Menschen in Georgien und in Kasachstan helfen uns zum Glück.

Denn das müssen alle wissen: Russen, die Russland verlassen, unterstütz­en Putin nicht.

Vielleicht bin ich naiv, wenn ich bleibe und an das Gute glaube. Ich glaube in manchen Momenten an eine gute Zukunft für unser Land. Niemand lebt für immer, auch Putin

nicht. Wir brauchen Leute in Russland, die an das Gute, den Frieden, die Kultur glauben. Wenn alle gehen, die keinen Krieg wollen, bleiben nur die Schlimmen zurück.

Manchmal wünsche ich mir, dass etwas Größeres passiert als das alles hier. Dass ein Asteroid auf unseren Planeten zusteuert und uns dazu zwingt, zusammenzu­arbeiten. Damit wir daran erinnert werden, dass wir alle nur kurze Zeit auf der Welt sind und diese kostbare Zeit

nicht für Kriege vergeuden dürfen. Wir müssen in Frieden miteinande­r leben. Können wir Menschen das nicht begreifen, verdammt noch

mal? Ich hoffe, dass dieser Tag irgendwann einmal kommen wird. Und dass ich diesen Tag erleben darf.

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