Gott der Liebe, Gott des Krieges
Jom Kippur ist das größte jüdische Fest. Da wird Buch geführt. Wie streng der Gott der Juden mit den Menschen ist, warum er ein liebendes Gesicht hat und ein strafendes. Und was Leonard Cohen damit zu tun hat.
Mit dem Judaisten René Bloch sprachen die SN über Jom Kippur und über die Tücken des Eingottglaubens.
Jom Kippur, das auf den 5. Oktober fällt, ist der höchste jüdische Feiertag. Worum geht es?
SN:
René Bloch: Es spannt sich ein Bogen vom jüdischen Neujahrsfest Rosch ha-Schana bis zu Jom Kippur, dem Versöhnungsfest. Es ist die Zeit der Umkehr, in der eine neue Seite des Lebens aufgeschlagen wird.
Es gibt die Vorstellung, dass Gott ein Buch hat, in dem er einschreibt, wer wird leben,
wer wird sterben, was wird das
Jahr bringen.
SN: Ist das eine Vorherbestimmung, ein Urteil Gottes über den Menschen?
Es hat etwas Mythologisches. In dem Gebet „Unetaneh tokef“, das Leonard Cohen in „Who by Fire“vertont hat,
heißt es, Gott schreibt an Rosch ha-Schana, und an Jom
Kippur versiegelt er das Buch. Daher wünscht man sich zu Neujahr nicht nur ein gutes Jahr, sondern auch eine gute
Versiegelung. Der mittelalterliche Text legt die Vorherbestimmung des Lebens nahe. Das steht im Widerspruch zum
freien Willen des Menschen, den das Judentum auch betont.
Es ist vielleicht ein Vorteil, dass im Judentum vielerorts auf Hebräisch gebetet wird, obwohl das viele nicht verstehen.
SN: Das scheint ähnlich wie früher bei der Messfeier auf Latein, die auch niemand verstanden hat.
Ja, der hebräische Text wirkt nicht so unmittelbar. Die meisten Menschen vollziehen den strengen Wortlaut dieser alten
Texte gar nicht mit, können aber dafür immer wieder Neues mit ihnen verbinden.
SN: Wie streng ist der jüdische Gott?
Den jüdischen Gott gibt es so nicht. Er entwickelte sich über Jahrhunderte. Schon der Gott des Tenach, der hebräischen Bibel der Juden, ist heterogen. Erst im 6. Jahrhundert v. Chr.,
im babylonischen Exil, entstand der strenge Monotheismus, der nicht nur den Glauben an andere Götter untersagt, sondern darauf
besteht, dass es andere Götter gar nicht gibt.
SN: Macht dieser strenge Eingottglaube alles noch komplizierter – oder einfacher?
Die Lebenserfahrung des Menschen ist, dass das Leben nicht nur gut ist. Damit erhebt sich die Frage, ob auch Gott nicht nur gut ist. Die Griechen und die Römer haben dieses Problem mit ihrem Pantheon voller Götter gelöst. Es gibt die Liebe, es gibt den Krieg. Ares
ist für den Krieg zuständig, Aphrodite für die Liebe. Die hebräische Bibel macht es ähnlich. Sie kennt zwar nur einen Gott, und dieser Gott ist gut. Aber er ist auch ambivalent: Dieser Gott ist – und das ist
nicht nur ein antisemitisches Stereotyp –, auch ein Mann des Krieges und ein Gott, der auch straft. Das
beginnt mit der Vertreibung aus dem Paradies und mit der Sintflut. Aber gleichzeitig ist es dann doch ein antisemitisches Stereotyp, dass dieser Gott nur
und ausschließlich der Strafende sei. Denn er ist auch ein liebender Gott. Er ist griechisch gesprochen Kriegsgott Ares und Liebesgöttin Aphrodite zugleich.
Diese zwei Gesichter Gottes sind ein Vorteil, wenn es um die Theodizeefrage geht, warum Gott das Leid zulässt. Da tut sich das Judentum leichter als das Christentum, weil Gott im Judentum eben beide Seiten hat, die gute und die strafende. Im Christentum
ist er viel stärker als Gott der Liebe akzentuiert – und da stellt sich die Frage verschärft, wie dieser liebende Gott das Böse zulassen kann.
SN: Wie zeigt sich der liebende Anteil des jüdischen Gottes?
In häufigen Wendungen wie der gnädige Gott, der
barmherzige Gott. Auch die Liebe Gottes zu seinem Volk ist ausgeprägt. Er verzeiht seinem Volk immer wieder. Es ist insgesamt eben eine sehr vielseitige Beziehung zwischen Gott und dem Volk Israel und auch zwischen Moses und dem Volk Israel. Das macht die
Texte aus literarischer Perspektive spannend.
SN: Gibt es im Judentum einen Trend von
der Orthodoxie zum Reformjudentum?
Das Judentum ist immer in Bewegung gewesen. Man darf nicht davon ausgehen, dass es in der Antike ein orthodoxes Judentum gab, aus dem sich allmählich das reformierte Judentum entwickelt hätte. Schon im ersten Jahrhundert n. Chr. spricht der jüdische Philosoph und Theologe Philo von Alexandrien von Juden, die das ganze Jahr über nichts mit ihrer Religion zu
tun haben wollen – nur an Jom Kippur, da fasten sie.
SN: Gibt es im Judentum eine Säkularisierung ähnlich wie im Christentum?
Das Judentum definiert sich auch in der Orthodoxie nicht nur über die Religion. Es ist zuallererst eine Familiengeschichte. Jüdisch ist,
wer eine jüdische Mutter hat. Man gehört durch die Herkunft dazu, nicht wie im Christentum durch die Taufe. Man ist ein Volk, man hat eine Beziehung zu Israel, wie immer die ist, man kann sich als Jude verstehen, ohne an Gott zu glauben.
Überall, wo Juden leben, werden Sie solche treffen, die sich über die Kultur definieren, über Israel oder über die Feste, die dann nicht unbedingt religiös verstanden werden – so wie viele das christliche Weihnachten ohne religiösen Bezug feiern.
Das führt freilich auch zu vielen Spannungen.
SN: Die sind besonders groß in den sogenannten Einheitsgemeinden im deutschsprachigen Raum.
Die Einheitsgemeinden werden von orthodoxen Rabbinern geführt. Dort gibt es große Konflikte in Bezug auf die Frauen im Gottesdienst. Es gibt in der Regel keine gleichberechtigten Gottesdienste und keine Rabbinerin – im Gegensatz zum Reformjudentum oder zum konservativen
Judentum, einer Ausrichtung zwischen der Orthodoxie und
dem liberalen Judentum. Diese Mittelbewegung hat sich aber im deutschsprachigen Raum kaum durchgesetzt. Reformgemeinden, auch mit Rabbinerinnen, gibt es dagegen an verschiedenen Orten im deutschsprachigen Raum.
Judentum und katholische Kirprivatche haben viel gemeinsam. Beide setzen auf den Ritus, auf das Handeln, und beide schleppen vieles
von früher mit. Viele Juden, die zu einer Einheitsgemeinde gehören, stört das aber nicht. Sie sind froh, dass der Rabbiner den Ritus
vollzieht, auch stellvertretend für sie, leben aber ihr Judentum kulturell.
René Bloch ist Judaist und Altphilologe
an der Universität Bern. Derzeit ist er Marko Feingold Distinguished Fellow an der Theologischen Fakultät der Universität Salzburg. Im Projekt von Kristin De Troyer werden fünf Fachleute zur Forschung über den jüdisch-christlichen Dialog nach Salzburg eingeladen.