Die Wut unter dem Schleier
Die junge Generation im Iran will sich nicht von alten Männern vorschreiben lassen, wie sie zu leben hat. Ihr Protest ist groß. Was kann er bewirken?
Am 4. Jänner 2011 verstarb Mohamed Bouazizi, ein Gemüsehändler in Tunesien. Zwei Wochen
vorher hatte er sich aus Verzweiflung selbst angezündet, nachdem die Polizei aus reiner
Willkür seinen Stand konfisziert und ihn somit seiner Erwerbsgrundlage beraubt hatte. Die Nachricht seines Todes wirkte wie ein Funke, der die schwelende Unzufriedenheit über eine korrupte, unfähige, aber allmächtige Staatsgewalt zum Explodieren brachte. Proteste breiteten sich wie ein Lauffeuer aus und veranlassten zehn Tage später die Flucht des verhassten Diktators Ben Ali. Der Beginn des „Arabischen Frühlings“verhieß die Hoffnung auf ein Ende der Unterdrückung.
Am 16. September 2022 verstarb Mahsa Amini, eine Studentin aus den kurdischen Provinzen im Iran. Auf Besuch in Teheran wurde sie von der Sittenpolizei wegen eines vermeintlichen Verstoßes gegen die Kleiderordnung festgenommen. Ein Bild des misshandelten Leichnams wurde über soziale Medien geteilt
und löste zunächst in ihrer Heimat Demonstrationen aus. Schnell verbreiteten sich die Proteste in alle Provinzen. Wer die Bilder sieht,
wie Frauen ihre Kopftücher verbrennen, spürt ihre Wut und Entschlossenheit, die Unterdrückung zu beenden.
Aber wird dies gelingen? Die Proteste haben tatsächlich eine neue Qualität. Der Fall wirkt
wie ein Prisma, das die aus verschiedenen Quellen stammende Wut bündelt. Auf der Straße stehen Frauen und Männer, alt und jung, Bürgertum und Arbeiter, Liberale und Konservative, Perser, Kurden und Azeri. Ein Grund für die breite Unterstützung der Proteste ist eine allgemeine Identifikation mit dem Opfer: „Mahsa Amini hätte auch unsere Tochter sein
können.“Man kann mit Bestimmtheit sagen, dass die Legitimationsbasis der Islamischen Republik unwiederbringlich zerbrochen ist.
Waren Proteste bisher an bestimmte Anliegen geknüpft, geht es nun um das System als solches. Der Iran hat eine relativ junge und gut ausgebildete Bevölkerung, die indes im Arbeitsmarkt kaum Perspektiven geboten bekommt, während gut vernetzte Personen ihren teils obszönen Reichtum zur Schau stellen. Die
junge Generation hat keinen Bezug mehr zur
Revolution. Die Digital Natives wollen sich nicht von alten Männern vorschreiben lassen, wie sie zu leben haben. Dass ihr Protest von vielen unterstützt wird, die bis dahin die Werte der Revolution, die auch nationale Selbstbestimmung versprach, geteilt haben, markiert einen Wendepunkt. Diesen Geist wieder in die Flasche zu drücken ist aussichtslos.
Doch was kann dieser Geist bewirken? Klar ist, dass das Regime auf keinen Fall nachgeben
wird. Bereits seit einiger Zeit wird eine härtere Linie verfolgt. Zudem trifft der Aufstand das Regime in einem ungünstigen Moment. Revolutionsführer Khamenei (83) ist gebrechlich. Seit er sich vor drei Wochen einer Notoperation unterziehen musste, ist die Nachfolgefrage
virulent. Nominell muss der von einem 95-jährigen Ajatollah geführte Expertenrat einen Nachfolger vorschlagen und wählen. Tatsächlich
wird die Frage in einem undurchsichtigen Geschacher zwischen den Machtpositionen innerhalb der Staatsgewalt entschieden.
Mit der Androhung und Ausübung von Gewalt, verschiedener weiterer Repressalien, einer Blockade des Internets und weiterer Maßnahmen wird das Regime versuchen, den Aufstand ausbluten zu lassen. Denn es ist wohl
bereits eine kritische Masse erreicht, die eine gewaltsame Niederschlagung allein nicht mehr zulässt. Auch die Aufstände im Libanon oder
Irak 2019 brachten eine solche kritische Masse auf die Straße – im Libanon rund ein Viertel der Bevölkerung. Doch um einen solchen erfolgreich zu führen, braucht es Gegenmacht – Unterstützung aus dem Militär, den Sicherheitsdiensten oder anderen Teilen eines „tiefen Staates“, von relevanten Akteuren aus Wirtschaft und Finanz oder von einer einflussreichen ausländischen Macht.
Zwar äußerten Stimmen um den ehemaligen Präsidenten Khatami und einzelne Geistliche
ihre Unterstützung, doch fehlt auch den Aufständischen im Iran eine Gegenmacht. Es gibt
keine alternativen gesellschaftlichen Strukturen, die sie nutzen könnten, und auch keine halbwegs geeinte Opposition.
Es gehört zum Drehbuch einer jeden autokratischen oder diktatorischen Regierung, solche alternativen Strukturen zu eliminieren, um sich selbst als einzigen Garanten stabiler Staatlichkeit zu inszenieren. Selbst viele, die unter den brutalen Diktaturen von Saddam Hussein im Irak oder den Assads in Syrien gelitten haben, ziehen diese dem folgenden Machtvakuum
vor, das von kaum eingeschränkter Gewalt geprägt wurde und wird.
Da die Revolutionsgarden den Schmuggel kontrollieren, wurde deren Stellung in der Wirtschaft durch die Sanktionen gestärkt. Eine
Verschärfung bestehender oder die Errichtung neuer Sanktionen träfe daher in erster Linie die Bevölkerung, nicht den Machtapparat.
Was bliebe also zu tun? In der Tat bieten sich keine guten Optionen. Selbst eine moralische Unterstützung des Aufstands stellt unter den gegebenen Umständen ein Stück weit Zynismus dar. Übrig bleibt ein „Wandel durch
Annäherung“, für den der Atomvertrag JCPOA steht. Dieser verkörperte die Hoffnung, dass
über die unmittelbare Stoßrichtung hinaus die ökonomische Öffnung des Landes gerade die Mittelklasse besserstellen würde und diese auch auf politische Reformen dränge. Diese
Hoffnung mag naiv sein, angesichts der zivilisatorischen Geschichte des Iran, des hohen Bildungsniveaus und der Händlertradition ist sie nicht grundlos. Indes ist dieses Fenster vorerst
geschlossen. So bleibt ein Paradox, das Antonio Gramsci beschrieben hat: Das Alte stirbt, das Neue kann noch nicht geboren werden. Es
ist die Zeit der Krise, der „fenomeni morbosi“.
Der Aufstand trifft das Regime in einem ungünstigen Moment
Andreas Böhm ist Direktor des Center for Philanthropy an der Universität St. Gallen und be
schäftigt sich seit Jahren mit dem Mittleren Osten. Er unterrichtet an der Universität St. Gallen und
der American University of Beirut.