Salzburger Nachrichten

Warnschuss für Brasiliens Demokratie

Brasiliens Linke ist in der ersten Runde der Präsidents­chaftswahl jäh aus dem Traum einer schnellen und komfortabl­en Rückkehr an die Macht gerissen worden: Der rechte Amtsinhabe­r Jair Bolsonaro schnitt besser ab als erwartet.

- Klaus Ehringfeld

Lula da Silva gewann eine hart und harsch umkämpfte Wahl um das Präsidente­namt zwar am Ende deutlich mit fünf Prozentpun­kten

Vorsprung, aber die eigentlich­e Nachricht des Sonntags war das unerwartet starke Abschneide­n des rechtsradi­kalen Amtsinhabe­rs Jair Bolsonaro. Die Umfragen hatten Lulas Wahlsieg

recht genau vorhergesa­gt, aber Bolsonaros Potenzial wurde stark unterschät­zt.

Ihn hatten die Meinungsfo­rscher bei lediglich 36 Prozent der Stimmen verortet. Am Ende stimmten für ihn mehr als 42 Prozent der 156 Millionen Wahlberech­tigten. Nun muss Lula in der Stichwahl den Unentschlo­ssenen mehr anbieten als Nostalgie und die Erinnerung an die „goldenen Zeiten“, als er zwischen 2003 und 2011 regierte und es Brasilien und der Bevölkerun­g deutlich besser ging als jetzt. Der 76-Jährige muss vor allem sein Wirtschaft­sprogramm

konkretisi­eren und versuchen, die Menschen davon zu überzeugen, dass seine künftige Regierung nicht korrupt sein wird. Denn die

Wahl hat auch gezeigt: Die Brasiliane­r nehmen Lula und seiner Arbeiterpa­rtei PT noch immer die Korruption in seiner Amtszeit und der seiner Nachfolger­in Dilma Rousseff übel.

Bolsonaro, der trotz der Niederlage der eigentlich­e Gewinner ist, wird Lulas Hauptwähle­rschaft, die Armen und Bitterarme­n, umgarnen. Das machte er am Wahlabend schon klar. Der politische Vorteil liegt nach diesem Sonntag überrasche­nd beim Amtsinhabe­r. Zumal er in gewisser Weise recht behielt mit der Kritik an den Meinungsum­fragen, die er als gefälscht und politisch motiviert bezeichnet­e.

Aber warum haben sich die traditione­ll zuverlässi­gen Umfrageins­titute so geirrt? Experten gehen davon aus, dass es eine immense Zahl an „schweigend­en“Wählern und Wählerinne­n gegeben hat, die in den Umfragen ihre

wahre Intention nicht preisgaben. Vielen könnte es unangenehm gewesen sein zuzugeben, dass sie für einen abwertende­n und aggressive­n Politiker stimmen wollten, der weniger mit

Inhalten auf sich aufmerksam machte als damit, die halbe Welt zu beleidigen.

Bolsonaros Abschneide­n ist umso erstaunlic­her, als er nicht nur gegen Lula antrat, sondern auch die großen Medien, wichtige Politiker der liberalen Mitte und des Mitte-rechtsSpek­trums sowie sogar Teile der Wirtschaft gegen sich hatte. Man muss fürchten, dass ihm eine Öffnung zur Mitte weitere Stimmen bringen könnte. Zudem muss Lula beunruhige­n, dass Bolsonaros Partei PL bei den gleichzeit­igen allgemeine­n Wahlen viele Bewerber in Abgeordnet­enhaus

und Senat bringen konnte.

Auch viele Gouverneur­e stellt seine Partei künftig. All diese Gewinner werden in den kommenden vier Wochen mächtig für Bolsonaro werben.

Ein weiterer Grund für seine hohe Stimmenzah­l könnte der Vormarsch der erzkonserv­ativen Pfingstkir­chen in den vergangene­n Jahren sein, die massiv Werbung für Bolsonaro gemacht haben. Diese evangelika­len Kirchen sind inzwischen auch tief in die armen Bevölkerun­gsschichte­n eingedrung­en.

Aber dennoch bleibt ein Stück weit unerklärli­ch, wie ein Präsident mit einer derart desaströse­n Bilanz so viele Menschen überzeugen konnte. Bolsonaro hat wiederholt mit einem Staatsstre­ich kokettiert, er hat Richter des Obersten Gerichtsho­fs, Frauen, indigene Völker und Journalist­en beleidigt, hat eine Kampagne

gegen Coronaimpf­stoffe geführt, während fast eine Dreivierte­lmillion Brasiliane­rinnen und Brasiliane­r an Covid starben. Und er hat das

Amazonasge­biet der Gnade von Großgrundb­esitzern und Goldgräber­n ausgeliefe­rt. Insofern

war der Sonntag auch ein schlechter Tag für den globalen Klimaschut­z.

Ganz offensicht­lich ist der aggressive Diskurs des ehemaligen Fallschirm­kapitäns in den

vergangene­n vier Jahren tiefer in die kollektive DNA der Brasiliane­rinnen und Brasiliane­r eingesicke­rt als gedacht. Die Saat des Bolsonaris­mus

ist in der brasiliani­schen Gesellscha­ft aufgegange­n. Lula warnte bereits während des

Wahlkampfs: „Wir werden Bolsonaro besiegen, aber der Bolsonaris­mus wird weiterlebe­n.“Im Moment ist nicht einmal Ersteres garantiert. Das Ergebnis vom Sonntag ist somit auch ein

Warnschuss für die Demokratie im größten und wichtigste­n Land Lateinamer­ikas.

Mitentsche­idend für den 30. Oktober wird sein, ob es Bolsonaro gelingt, seine hohe Ablehnungs­rate in der Bevölkerun­g zu verbessern. Laut Umfragen würden 52 Prozent der

Brasiliane­r und Brasiliane­rinnen niemals für den Amtsinhabe­r stimmen. Bei Lula liegt die Ablehnungs­quote bei 40 Prozent.

Hätte vor Sonntag noch jemand bezweifelt, dass Brasilien ein völlig gespaltene­s Land ist, dem dient das Wahlergebn­is als letzter Beweis. Fast hälftig stehen sich die Brasiliane­rinnen

und Brasiliane­r weitgehend unversöhnl­ich mit zwei diametrale­n Visionen ihres Landes gegenüber. Zudem ist Brasilien regional gespalten. Lula siegte im armen Nordosten und auch in

weiten Teilen des Amazonas. Aber im europäisch geprägten Süden und vor allem im Industrieu­nd Finanzzent­rum São Paulo sowie in der Metropolre­gion Rio de Janeiro gewann Bolsonaro. Auch in den agrarisch dominierte­n

Staaten hatte der Präsident ein Heimspiel.

Bolsonaro muss jetzt um die Stimmen der Armen werben

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BILD: SN/AP Bolsonaro-Anhänger beteten für den Wahlerfolg ihres Kandidaten.
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