Wie viel Neandertaler steckt in uns?
Spuren aus der weit zurückliegenden Vergangenheit, insbesondere von ausgestorbenen Menschenformen, stehen im Zentrum der Arbeit des schwedischen Evolutionsforschers Svante Pääbo. Nun erhält er den Medizinnobelpreis.
STOCKHOLM. Ihm gelang bis dahin scheinbar Unmögliches: Der schwedische Evolutionsforscher Svante Pääbo und sein Team entschlüsselten 2010 das Genom des Neandertalers, eines ausgestorbenen Verwandten des heutigen Menschen. Für seine „Entdeckungen über die Genome der Vorfahren des modernen Menschen und die menschliche Evolution“wird der Forscher
mit dem heurigen Nobelpreis für Physiologie bzw. Medizin ausgezeichnet, teilte das Karolinska-Institut am Montag in Stockholm mit.
Seine Entdeckungen enthüllten immer wieder Kapitel der Evolutionsgeschichte. Um seine Forschung realisieren zu können, musste Pääbo aber einige Hürden überwinden. Ein Beispiel: DNA ist ein recht instabiles Molekül und zerfällt im Laufe der Zeit in immer kleinere Bruchstücke. Dennoch gelang es dem Evolutionsforscher und seinem
Team, Erbgut des Neandertalers aus alten Knochenfragmenten zu isolieren und zu analysieren. Vergleiche mit dem Erbgut des modernen Menschen zeigten unter anderem,
dass bei Menschen mit europäischer oder asiatischer Herkunft etwa ein bis zwei Prozent des Genoms auf den Neandertaler zurückgehen. Homo sapiens und Homo neandertalensis mussten also Kinder miteinander gezeugt haben – eine bahnbrechende Erkenntnis.
Der schwedische Biologe gilt als Vordenker der sogenannten Paläogenetik. Ihm war es bereits als Doktorand in den 1980er-Jahren gelungen, erstmals die DNA einer Mumie zu klonen. Ein weiterer Meilenstein seiner Karriere war die Entdeckung
des sogenannten Denisova-Menschen. 2008 war ein kleines, 40.000
Jahre altes Fingerknochenfragment in der Denisova-Höhle in Sibirien
gefunden worden. Untersuchungen zeigten, dass sich die DNA-Sequenz des Menschen von der des Neandertalers und des modernen Menschen unterschied – eine weitere Frühmenschen-Art war entdeckt.
Auch Spuren vom Erbgut des Denisova-Menschen finden sich im Erbgut des modernen Menschen.
Die Erbgut-Spuren unserer ausgestorbenen Verwandten beeinflussen bis heute die Gesundheit des Menschen. So gebe es etwa Neandertaler-Gene,
die auf die Immunantwort bei verschiedenen Infektionen wirkten, beschreibt das Nobelkomitee. Neuere Studien von
Pääbo und Kollegen deuten auch darauf hin, dass einige archaische Gene wahrscheinlich das Risiko beeinflussen, schwer an Covid-19 zu erkranken.
„Die Frage, woher wir kommen und was uns einzigartig macht, beschäftigt die Menschheit von alters
her“, schreibt das Nobelkomitee in seiner Begründung für die Vergabe. Pääbos Arbeiten zu der Aufdeckung genetischer Unterschiede, die alle
lebenden Menschen von den ausgestorbenen Homininen unterscheiden, bilden nach Ansicht des Komitees die Grundlage für die Beantwortung dieser Fragen.
Der Medizinnobelpreisträger wurde am 20. April 1955 in Stockholm geboren. Er forscht derzeit in Leipzig, Deutschland. Dort ist er Direktor und wissenschaftliches Mitglied am Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie. Außerdem ist Pääbo Sohn eines früheren
Nobelpreisträgers in derselben Kategorie: Sune Bergström wurde im Jahr 1982 gemeinsam mit zwei
weiteren Preisträgern für seine „Entdeckungen in Bezug auf Prostaglandine (Gewebshormone,
Anm.) und verwandte biologisch aktive Substanzen“mit dem Nobelpreis ausgezeichnet.
Pääbo erfuhr in Leipzig von seiner prestigeträchtigen Auszeichnung. Er sei am Telefon „überwältigt,
sprachlos und sehr froh“gewesen, berichtete der Sekretär der Nobelversammlung des Stockholmer Karolinska-Instituts, Thomas Perlmann.
Im Vorjahr waren der US-Forscher David Julius und der im Libanon geborene Molekularbiologe Ardem Patapoutian mit dem Nobelpreis für Physiologie bzw. Medizin geehrt
worden. Ausgezeichnet wurden sie für ihre Entdeckungen der menschlichen Rezeptoren für Temperaturund Berührungsempfinden. Die Bekanntgabe der Auszeichnung für Medizin bildete wie jedes Jahr den Start in die Nobelpreiswoche. Das Preisgeld beträgt je Nobelpreiskategorie zehn Millionen schwedische Kronen (knapp 920.000 Euro).
Am Dienstag folgt die Verkündung der Preisträgerinnen oder
Preisträger für Physik – und am Mittwoch jene für Chemie. Nach den Wissenschaftspreisen wird wie
gewohnt am Donnerstag der Literaturnobelpreis vergeben, am Freitag folgt der Friedensnobelpreis. Den
Abschluss bildet am kommenden Montag die Auszeichnung für Wirtschaftswissenschaften.
Geplant ist, dass die Übergabe der Preise heuer am 10. Dezember, dem Todestag des Stifters Alfred Nobel, wieder in Stockholm stattfindet. Dazu eingeladen werden auch die Gewinner der Jahre 2020 und 2021. In diesen beiden Jahren
war die Verleihung coronabedingt in den Heimatländern der Preisträger durchgeführt worden. Seit 1901
haben 224 Menschen den Medizinnobelpreis erhalten, darunter zwölf Frauen.