Der Westen überhörte Warnungen
Die Bachmann-Preisträgerin Tanja Maljartschuk legt Essays vor.
KIEW, WIEN. Eigentlich fühlt man sich hierzulande informiert über die Geschehnisse in der Ukraine,
bangt mit den Menschen des überfallenen Landes und hofft, nicht eine weitere Eskalation erleben zu müssen. Dann liest man ein schmales Buch und wird wie
mit einer Keule getroffen. Viele Essays in Tanja Maljartschuks Band „Gleich geht die Geschichte weiter, wir atmen nur aus“sind vor Jahren geschrieben und wirken tagesaktuell.
Was Tanja Maljartschuk, 1983 in Iwano-Frankiwsk geboren
und 2011 der Liebe wegen nach Österreich gekommen, 2014 bis
2017 über ihr Land, seine Geschichte und die fortdauernde
Aggression Russlands gegen die Ukraine geschrieben hat, liest sich nicht nur verzweifelt und wahrhaftig, sondern auch prophetisch im Lichte des vergangenen halben Jahres. Wie kann es sein, dass der Westen während dieser Jahre die Warnungen und
Erfahrungen der Menschen vor Ort überhört hat? Wie muss es
Tanja Maljartschuk gegangen sein, als sie 2018 mit ihrem für
den Literaturwettbewerb in Klagenfurt geschriebenen Text „Frösche im Meer“mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis geehrt wurde, während ihre Texte ohne Echo verhallten, in denen sie die lange wirkenden Verheerungen des Kommunismus und die Bedrohungen des Friedens durch den übermächtigen Nachbarn beschrieb?
In den nun gesammelt herausgegebenen 21 Texten erzählt Tanja Maljartschuk vom Aufwachsen in den „Bloodlands“(so der Titel eines Buchs von Timothy Snyder), in deren Erde die Opfer von seit Jahrhunderten wiederkehrenden Kriegen, Massakern und Pogromen verwesen, und von der Suche nach Spuren einst lebendiger jüdischer Gemeinden
in der Umgebung ihres Heimatdorfs. Sie berichtet vom Verdrängen und Verschweigen historischer Katastrophen, von Kollaborationen mit wechselnden Mächten, vom Holodomor, der von Stalin
befohlenen systematischen Auslieferung von Ukrainerinnen und
Ukrainern an den Hungertod, von Schuldgefühlen jener, die sich nicht mehr im Land, sondern in vermeintlicher Sicherheit befinden.
Abgesehen vom Auftakt sind die Texte chronologisch geordnet, nähern sich also von 2014 aus dem Schrecken der Gegenwart. „Langsam kommt ein Verständnis dafür auf, dass das gerade Geschehene
meine und die Zukunft meiner Landsleute für sehr lange bestimmen wird, dass wir, wenn wir es überleben, uns Jahrzehnte damit
werden beschäftigen müssen“, heißt es. In einem anderen Text,
veröffentlicht am 24. Februar 2022: „Bald wissen wir, ob der Weg, den
wir heute gehen, zu einer ersehnten Befreiung führt oder doch in ein
weiteres Massengrab.“
Buch: Tanja Maljartschuk, „Gleich
geht die Geschichte weiter, wir atmen nur aus“, Essays, 176 S., Kiepenheuer &
Witsch.