Odessa – der Hauptpreis für Putin
Noch ist die ukrainische Hafenstadt Odessa ein Zufluchtsort für Binnenvertriebene. Man will sich die Lebenslust nicht nehmen lassen.
ODESSA. Am Buchmarkt von Odessa werden die russischen Klassiker
weiterhin nachgefragt. „Es kommen immer wieder Leute, die nach ,Anna Karenina‘ fragen“, sagt eine ältere Händlerin mit grellroten Nägeln. Russische Kultur ist aus Odessa nicht wegzudenken. Und die unglücklich verliebte Adelstochter aus Tolstois berühmtem Roman kann schließlich nichts für Wladimir Putins Angriffskrieg.
Noch ist die Schwarzmeermetropole mit einer Million Einwohnerinnen und Einwohnern für viele Binnenvertriebene aus den Kriegsgebieten ein vergleichsweise sicherer Hafen. Die Kaffeehäuser sind voll, abends dröhnt Musik aus hippen Bars, in Häuserecken knutschen Liebespaare. Man will sich
die Lebensfreude nicht nehmen lassen. Aber die Ruhe ist trügerisch. Beinahe täglich heulen die Sirenen,
wenn wieder eine Kampfdrohne über die Stadt fliegt. Ende September wurden so zwei Menschen durch eine Bombe getötet. Meist gelingt es Scharfschützen, die Ungetüme vom Himmel zu holen. Die
verschossenen Patronen fallen dann wie Hagelkörner auf Gehsteige und Kinderspielplätze. Odessa ist neben Kiew eine wirtschaftliche
Hauptschlagader des Landes. Immer noch ist die Ukraine einer der wichtigsten Getreideexporteure der
Welt. Und der Weizen, der auf den fruchtbaren, schwarzen Äckern
wächst, wird über den Hafen von Odessa in die halbe Welt verschifft.
Die Einnahme der Stadt ist Putins erklärtes Ziel, der Hauptpreis. Damit wäre der Seeweg in den Westen
gekappt, die Ukraine wirtschaftlich ruiniert.
Ganz zu schweigen von der moralischen Demütigung. „Perle am Schwarzen Meer“nennt man Odessa in der Ukraine. „Das Merkmal
unserer Stadt war die Leichtigkeit“, sagt die Journalistin Karina Beigelzimer. Die Meeresbrise, Menschen aus aller Welt, die aus den Bäuchen der Schiffe steigen. Das prägt. „Luftmenschen“nannte der Schriftsteller Isaak Babel einst die Leute in seiner Heimatstadt. Man sprach Russisch, bekannte sich zur Ukraine
und fühlte odessistisch. Nationalität? Egal. „Politik hat uns nie interessiert“, sagt Beigelzimer.
Das hat sich nun geändert. An Litfaßsäulen kleben Propagandaplakate: Mal ist es ein Lob der Soldaten, die tapfer ihre Heimat verteidigen, mal ein Aufruf an Frauen, es ihnen
gleichzutun. Der populäre Radiosender FM Odessa spielt zwischen Frontberichten patriotische Lieder.
Verstärkt wird die patriotische Aufwallung durch die jüngsten Gebietsgewinne. Erstmals keimt Hoffnung, dass der Krieg zu gewinnen sein könnte. Der Jubel über die Erfolge im Osten vernebelt die Gefahr
im Süden. Odessas Schutzwall ist die hundert Kilometer entfernte
Schwesterstadt Mykolajiw. Dort
werden die russischen Truppen aufgehalten – unter großen Opfern.
Teile der Stadt sind zerschossen, die Infrastruktur ist lahmgelegt.
Mit der Teilmobilisierung in Russland geht in Odessa die Angst um: Hunderttausende Soldaten
könnten die Küste überrennen. „Die Gesichter der Menschen sind fahler
geworden“, sagt Beigelzimer. Die Gefahr zeigt sich oft in kleinen Details. Etwa an einem Stadtplan für
Touristen, der mit schwarzer Acrylfarbe übermalt wurde. Sollten die Russen kommen, will man ihnen die Orientierung nicht noch erleichtern.
Augenscheinlicher sind die Barrikaden, die den Weg zum Meer versperren. Der Hafen ist vermint und
militärisches Sperrgebiet. Auch vor der berühmten Potemkinschen Treppe stehen Sandsäcke. Ein junger Soldat bewacht die Sperre, er gähnt. Dann durchschneidet ein Sirenenton die Luft. Der Wehrmann setzt den Schutzhelm auf, richtet den Schultergürtel seines Gewehrs
und blickt mit einem Fernrohr auf den Himmel über dem Meer. Nach ein paar Minuten verstummt die Sirene. Fehlalarm.
Die „Kamikaze-Drohnen“iranischer Bauart sollen nicht nur töten
Karina Beigelzimer,
und Schaden anrichten. Auch die Furcht, die sie verbreiten, gehört zum Kalkül. Die Menschen sollen
gebrochen werden. Gerade in Odessa, dieser liberalen Stadt, wo sich schwule Männer in der Öffentlichkeit zeigen und das öffentliche Lästern über die Obrigkeit zum guten Ton gehört. Odessa verkörpert alles,
was Putin am Westen hasst. Er möchte die „Russen“dort befreien. Diese Vorstellung bereitet den
meisten russischsprachigen Odessiten Albträume. „Es gibt heute fast
keinen hier, der noch zu Putin hält“, sagt Beigelzimer.
Was dessen Krieg anrichtet, zeigt sich im größten Kinderspital des Landes. Auf der Intensivstation
werden Kinder mit Kriegsverletzungen behandelt. Am schlimmsten seien Phosphorbomben, erzählt die
junge Ärztin Anna Bantowskaja: „Zum Glück hatte ich selbst damit
bisher noch nicht zu tun.“Die Chemikalie ätzt sich durch Haut und
Fleisch bis auf die Knochen, eine Behandlung ist kaum möglich.
Das Krankenhaus wird von der NGO Jugend Eine Welt und dem Salesianerorden finanziell und personell unterstützt. Gerade ist ein Lastwagen aus Wien angekommen, mit dringend benötigten Hilfsgütern:
Beatmungsgeräte, Antibiotika, selbst Spritzen sind Mangelware.
Bantowskaja gesellt sich zu einem Gruppenfoto, gemeinsam mit Krankenschwestern und polnischen Nonnen. Man blödelt herum, schneidet Grimassen. Ein wenig
Leichtigkeit, dann löst sich die Runde wieder auf. Zu viel Arbeit, zu wenig Personal. Zwei Stunden später
heulen erneut die Sirenen.
„Unser Merkmal war Leichtigkeit.“
Die Reportagereise wurde durch finanzielle Unterstützung von Jugend
Eine Welt ermöglicht.