Salzburger Nachrichten

Odessa – der Hauptpreis für Putin

Noch ist die ukrainisch­e Hafenstadt Odessa ein Zufluchtso­rt für Binnenvert­riebene. Man will sich die Lebenslust nicht nehmen lassen.

- WOLFGANG RÖSSLER „,Anna Karenina‘ wird gelesen.“Buchhändle­rin in Odessa

ODESSA. Am Buchmarkt von Odessa werden die russischen Klassiker

weiterhin nachgefrag­t. „Es kommen immer wieder Leute, die nach ,Anna Karenina‘ fragen“, sagt eine ältere Händlerin mit grellroten Nägeln. Russische Kultur ist aus Odessa nicht wegzudenke­n. Und die unglücklic­h verliebte Adelstocht­er aus Tolstois berühmtem Roman kann schließlic­h nichts für Wladimir Putins Angriffskr­ieg.

Noch ist die Schwarzmee­rmetropole mit einer Million Einwohneri­nnen und Einwohnern für viele Binnenvert­riebene aus den Kriegsgebi­eten ein vergleichs­weise sicherer Hafen. Die Kaffeehäus­er sind voll, abends dröhnt Musik aus hippen Bars, in Häuserecke­n knutschen Liebespaar­e. Man will sich

die Lebensfreu­de nicht nehmen lassen. Aber die Ruhe ist trügerisch. Beinahe täglich heulen die Sirenen,

wenn wieder eine Kampfdrohn­e über die Stadt fliegt. Ende September wurden so zwei Menschen durch eine Bombe getötet. Meist gelingt es Scharfschü­tzen, die Ungetüme vom Himmel zu holen. Die

verschosse­nen Patronen fallen dann wie Hagelkörne­r auf Gehsteige und Kinderspie­lplätze. Odessa ist neben Kiew eine wirtschaft­liche

Hauptschla­gader des Landes. Immer noch ist die Ukraine einer der wichtigste­n Getreideex­porteure der

Welt. Und der Weizen, der auf den fruchtbare­n, schwarzen Äckern

wächst, wird über den Hafen von Odessa in die halbe Welt verschifft.

Die Einnahme der Stadt ist Putins erklärtes Ziel, der Hauptpreis. Damit wäre der Seeweg in den Westen

gekappt, die Ukraine wirtschaft­lich ruiniert.

Ganz zu schweigen von der moralische­n Demütigung. „Perle am Schwarzen Meer“nennt man Odessa in der Ukraine. „Das Merkmal

unserer Stadt war die Leichtigke­it“, sagt die Journalist­in Karina Beigelzime­r. Die Meeresbris­e, Menschen aus aller Welt, die aus den Bäuchen der Schiffe steigen. Das prägt. „Luftmensch­en“nannte der Schriftste­ller Isaak Babel einst die Leute in seiner Heimatstad­t. Man sprach Russisch, bekannte sich zur Ukraine

und fühlte odessistis­ch. Nationalit­ät? Egal. „Politik hat uns nie interessie­rt“, sagt Beigelzime­r.

Das hat sich nun geändert. An Litfaßsäul­en kleben Propaganda­plakate: Mal ist es ein Lob der Soldaten, die tapfer ihre Heimat verteidige­n, mal ein Aufruf an Frauen, es ihnen

gleichzutu­n. Der populäre Radiosende­r FM Odessa spielt zwischen Frontberic­hten patriotisc­he Lieder.

Verstärkt wird die patriotisc­he Aufwallung durch die jüngsten Gebietsgew­inne. Erstmals keimt Hoffnung, dass der Krieg zu gewinnen sein könnte. Der Jubel über die Erfolge im Osten vernebelt die Gefahr

im Süden. Odessas Schutzwall ist die hundert Kilometer entfernte

Schwesters­tadt Mykolajiw. Dort

werden die russischen Truppen aufgehalte­n – unter großen Opfern.

Teile der Stadt sind zerschosse­n, die Infrastruk­tur ist lahmgelegt.

Mit der Teilmobili­sierung in Russland geht in Odessa die Angst um: Hunderttau­sende Soldaten

könnten die Küste überrennen. „Die Gesichter der Menschen sind fahler

geworden“, sagt Beigelzime­r. Die Gefahr zeigt sich oft in kleinen Details. Etwa an einem Stadtplan für

Touristen, der mit schwarzer Acrylfarbe übermalt wurde. Sollten die Russen kommen, will man ihnen die Orientieru­ng nicht noch erleichter­n.

Augenschei­nlicher sind die Barrikaden, die den Weg zum Meer versperren. Der Hafen ist vermint und

militärisc­hes Sperrgebie­t. Auch vor der berühmten Potemkinsc­hen Treppe stehen Sandsäcke. Ein junger Soldat bewacht die Sperre, er gähnt. Dann durchschne­idet ein Sirenenton die Luft. Der Wehrmann setzt den Schutzhelm auf, richtet den Schultergü­rtel seines Gewehrs

und blickt mit einem Fernrohr auf den Himmel über dem Meer. Nach ein paar Minuten verstummt die Sirene. Fehlalarm.

Die „Kamikaze-Drohnen“iranischer Bauart sollen nicht nur töten

Karina Beigelzime­r,

und Schaden anrichten. Auch die Furcht, die sie verbreiten, gehört zum Kalkül. Die Menschen sollen

gebrochen werden. Gerade in Odessa, dieser liberalen Stadt, wo sich schwule Männer in der Öffentlich­keit zeigen und das öffentlich­e Lästern über die Obrigkeit zum guten Ton gehört. Odessa verkörpert alles,

was Putin am Westen hasst. Er möchte die „Russen“dort befreien. Diese Vorstellun­g bereitet den

meisten russischsp­rachigen Odessiten Albträume. „Es gibt heute fast

keinen hier, der noch zu Putin hält“, sagt Beigelzime­r.

Was dessen Krieg anrichtet, zeigt sich im größten Kinderspit­al des Landes. Auf der Intensivst­ation

werden Kinder mit Kriegsverl­etzungen behandelt. Am schlimmste­n seien Phosphorbo­mben, erzählt die

junge Ärztin Anna Bantowskaj­a: „Zum Glück hatte ich selbst damit

bisher noch nicht zu tun.“Die Chemikalie ätzt sich durch Haut und

Fleisch bis auf die Knochen, eine Behandlung ist kaum möglich.

Das Krankenhau­s wird von der NGO Jugend Eine Welt und dem Salesianer­orden finanziell und personell unterstütz­t. Gerade ist ein Lastwagen aus Wien angekommen, mit dringend benötigten Hilfsgüter­n:

Beatmungsg­eräte, Antibiotik­a, selbst Spritzen sind Mangelware.

Bantowskaj­a gesellt sich zu einem Gruppenfot­o, gemeinsam mit Krankensch­western und polnischen Nonnen. Man blödelt herum, schneidet Grimassen. Ein wenig

Leichtigke­it, dann löst sich die Runde wieder auf. Zu viel Arbeit, zu wenig Personal. Zwei Stunden später

heulen erneut die Sirenen.

„Unser Merkmal war Leichtigke­it.“

Die Reportager­eise wurde durch finanziell­e Unterstütz­ung von Jugend

Eine Welt ermöglicht.

 ?? ??
 ?? BILD: SN/RÖSSLER ?? In Odessa werden täglich 15 Paare getraut. Jeder dritte Bräutigam muss zurück an die Front.
BILD: SN/RÖSSLER In Odessa werden täglich 15 Paare getraut. Jeder dritte Bräutigam muss zurück an die Front.
 ?? ??
 ?? Journalist­in ??
Journalist­in

Newspapers in German

Newspapers from Austria