Ein Nachbar, der in die Familie will
Georgien ist, anders als die Ukraine und Moldau, kein EU-Kandidat. Die Enttäuschung ist riesig. Aber auch die Motivation, aufzuholen.
„Alles nach EU-Standard!“Dieser Satz fällt oft bei dem Besuch in Swanetien, einer naturbelassenen Bergregion im Norden Georgiens. Fast so oft wie der Satz: „Wir haben gerade keinen Strom.“Beide sind sinnbildlich für die Entwicklung des Landes: auf der einen Seite der spürbare Wunsch, in die EU zu kommen. Auf der anderen Seite die sichtbaren Defizite bei der Entwicklung: Auf holprigen Straßen wechseln Schlaglöcher und Kühe als Hindernis. Die Strom- und Wasserleitungen sind anfällig für Ausfälle und die medizinische Versorgung lässt zu wünschen übrig.
Doch die Menschen wollen hier trotzdem nicht weg. „Seht euch um, es ist wunderschön“, sagt der 20jährige Saba. Der junge Mann hat Glück und eine Stelle in der Tischlerei seines Vaters, genau wie sein Freund Vasko. Bezahlt werden sie,
wenn es Arbeit gibt. Ihre Schulkameraden seien fast alle weggegangen, berichten die beiden. „Die Leute brauchen mehr Entwicklungsmöglichkeiten“, sagen sie.
Der Beitritt zur EU verheißt für Saba und Vasko genau das: Freiheit, Reisen, Studieren. Noch stärker ist der Zug Richtung Westen, seit der nördliche Nachbar Russland die Ukraine angegriffen hat. „Es gab zuerst den Eindruck, dass der Krieg auch hier in Georgien sein würde“, sagt Kakha Jorjoliani, Bürgermeister
von Mestia, der mit knapp 2000 Einwohnern größten Stadt in Swanetien. Mittlerweile sei die Diskussion über einen möglichen Krieg in den Hintergrund getreten. Nach
Russland will sich aber kaum wer orientieren. „Gemeinsam mit der EU werden wir stärker sein, politisch und wirtschaftlich“, sagt Saba.
Von der Veranda des kleinen Hauses, in dem die Tischlerei seines
Vaters Besarion Pirtskheliani eingerichtet ist, eröffnet sich ein Blick auf die bewaldeten Berge und eine tiefe Schlucht. Es ist ein atemberaubendes Panorama. Doch die Augen des Tischlers bringt etwas anderes zum Leuchten: das neue Gerät in der Werkstatt, eine Hobelmaschine der österreichischen Firma Bernardo. Vorführen kann Besarion sie
nicht – Stromausfall. Die Arbeit steht. Die Aufträge, unter anderem Betten für Hotels, bleiben liegen.
Und das, obwohl sie so zahlreich sind, dass der Tischler kaum noch zu seiner Lieblingsarbeit kommt, den traditionellen Schnitzarbeiten.
Angeschafft wurde die neue Maschine von Besarion über ein Programm von Care Österreich. Die Finanzierung übernimmt die NGO
gemeinsam mit der Agentur der Österreichischen Entwicklungszusammenarbeit (ADA) und der EU,
die im Rahmen ihrer Nachbarschaftspolitik mit 80 Prozent den Großteil des 2,5-Millionen-EuroBudgets stellt. 1300 Haushalte in der Region profitieren davon. Es
geht um Entwicklung im ländlichen Raum und darum, „Demokratie zu
lernen“, sagt Levan Dadiani von Care Georgien. Denn Kernstück des Programms ist eine eigens eingerichtete Bürgerplattform, die sogenannte Local Action Group (LAG).
Engagierte aus allen Gemeinden der Region werden hier zum Bindeglied zwischen der Bevölkerung und den Behörden. „Frei von Politik“, sagt Dadiani. Diese Einschätzung teilt EU-Kommissionsmitarbeiter Georges Dehoux, zuständig für Programme zu Landwirtschaft
und Lebensmittelsicherheit in Georgien. „Die Local Action Groups sind einer der besten Wege, die Entwicklung des ländlichen Raums auszulösen“, sagt er und sieht darin „abseits der Politik“eine Chance für das post-sowjetische Land, eine Entwicklung ausgehend von der Bevölkerung anzustoßen – und nicht verordnet von oben.
Wer ein Projekt im Rahmen des Care-Programms bewilligt bekommt, muss selbst einen finanziellen Beitrag dazu leisten. Die meisten schaffen das mit Vorhandenem, einige wenige müssen dafür einen –
in Georgien sehr teuren – Kredit aufnehmen. So wie Omar Nanskani aus Lakhamula. Auf 1630 Metern Seehöhe hat er seine kleine, neue
Käserei eingerichtet – nicht nur mit EU-Mitteln, sondern auch nach EUStandards. Das erlaubt ihm grundsätzlich,
seinen Käse auf dem EUMarkt anzubieten. Dafür müsste sich Omar aber listen lassen, wozu
ihm derzeit das Geld fehle, wie er sagt. Sein größter Vorteil: Er kann
mit den neuen Geräten mehr produzieren. Und: „Die georgischen
Konsumenten können denselben Standards vertrauen wie wir“, sagt Dehoux von der EU-Delegation.
Vorgeschrieben ist diese Anpassung im Assoziierungsabkommen mit der EU von 2014. „Sie öffnet die Tür zu einer Menge von Märkten“, sagt Dehoux und ergänzt, dass die Exportchancen für Georgier wegen mangelnder Kapazitäten trotzdem
beschränkt sind. Das Land ist bei fast allen Agrarprodukten auf Importe angewiesen. Eier sind eine
Ausnahme sowie Nüsse und Rotwein, die beiden georgischen Exportschlager. Gemüse und Obst hingegen wird aus der Türkei eingeführt, Rindfleisch aus Lateinamerika. Beim Weizen ist Georgien zu 85 Prozent auf Importe angewiesen, sie kommen zu 95 Prozent vom nördlichen Nachbarn. „Wenn Russland keinen Weizen mehr liefert, hat Georgien kein Brot mehr zu essen“, bringt Dehoux die Abhängigkeit auf den Punkt.
Georgien hat sich den EU-Sanktionen gegen Russland nicht angeschlossen. Um die Importe zu diversifizieren habe Georgien zwar Optionen, aber keine so günstigen wie Russland, sagt Dehoux. Und um
mittelfristig auf Selbstversorger
umzustellen, dazu sei die Landwirtschaft zu unproduktiv. Zwar leben etwa 40 Prozent der Georgier von der Agrarwirtschaft, die meisten
versorgen sich damit aber selbst und erzielen kaum ein Einkommen, sagt Alexander Karner, Büroleiter der ADA in Tiflis. „In Georgien gibt es nicht einmal eine Definition, was ein Landwirt ist“, berichtet er.
Die Landwirtschaft, glauben Karner und Dehoux, habe in Georgien dennoch Potenzial. Aber nicht zum massenhaften Export. „Georgien muss seine Nische finden“, sagt
Karner. Und auch Dehoux meint, die Produzenten werden kaum in großer Menge in die EU exportieren
können, sondern eher kleine Mengen lokaler Spezialitäten.
Vielleicht macht das irgendwann auch Omar. Wenn der Strom in seiner Käserei angeschlossen ist und er die Maschinen in Betrieb nehmen kann. Wenn er sich die nötigen Milchlieferungen gesichert hat, um
mehr Käse zu produzieren, woran es derzeit auch noch hapert.
So wie Omar hat das ganze Land noch einen weiten Weg vor sich.
Anders als der Ukraine und Moldau haben die EU-Staats- und Regierungschefs Georgien im Juni nicht den Status des Beitrittskandidaten
verliehen, sondern nur die Perspektive auf eine Mitgliedschaft ausgesprochen. Zwölf Punkte muss Tiflis noch erfüllen, damit es Kandidat
werden kann, darunter die Auflösung der politischen Polarisierung, „De-Oligarchisierung“, bessere Einbindung der Zivilgesellschaft und Stärkung der Menschenrechte.
Der Ball, sagt Kommissionsmitarbeiter Dehoux, liege bei Georgien. Dass es ihn spielen werde, da ist er optimistisch. Denn: „Ich habe noch nie ein Land gesehen, dass so verliebt ist in die EU.“Doch die Entscheidung vom Juni hat viele enttäuscht. „Zuvor dachte ich, diese
Tür sei offen“, sagt der Bürgermeister von Mestia. Nun denkt er, dass sie fast zu sei und nur noch „etwas zum Aufpicken in der Türschwelle liegen gelassen wurde“.
Wie der Bürgermeister finden es viele ungerecht, dass die Ukraine – trotz oder wegen des Krieges – Beitrittskandidat ist und Georgien nicht. Viele andere, sagt ADA-Büroleiter Karner, sähen die Entscheidung aber als „Spiegel der eigenen
Versäumnisse“. Ob diese Versäumnisse von der Regierung ausgeräumt worden sind, soll die EUKommission Ende des Jahres bewerten – und vielleicht den ersehnten Kandidatenstatus empfehlen.
„Ich habe noch kein Land gesehen, das so verliebt ist in die EU.“Georges Dehoux, EU-Kommission