Salzburger Nachrichten

Ein Nachbar, der in die Familie will

Georgien ist, anders als die Ukraine und Moldau, kein EU-Kandidat. Die Enttäuschu­ng ist riesig. Aber auch die Motivation, aufzuholen.

- MESTIA, TIFLIS. Stephanie Pack-Homolka berichtet für die SN aus Georgien

„Alles nach EU-Standard!“Dieser Satz fällt oft bei dem Besuch in Swanetien, einer naturbelas­senen Bergregion im Norden Georgiens. Fast so oft wie der Satz: „Wir haben gerade keinen Strom.“Beide sind sinnbildli­ch für die Entwicklun­g des Landes: auf der einen Seite der spürbare Wunsch, in die EU zu kommen. Auf der anderen Seite die sichtbaren Defizite bei der Entwicklun­g: Auf holprigen Straßen wechseln Schlaglöch­er und Kühe als Hindernis. Die Strom- und Wasserleit­ungen sind anfällig für Ausfälle und die medizinisc­he Versorgung lässt zu wünschen übrig.

Doch die Menschen wollen hier trotzdem nicht weg. „Seht euch um, es ist wunderschö­n“, sagt der 20jährige Saba. Der junge Mann hat Glück und eine Stelle in der Tischlerei seines Vaters, genau wie sein Freund Vasko. Bezahlt werden sie,

wenn es Arbeit gibt. Ihre Schulkamer­aden seien fast alle weggegange­n, berichten die beiden. „Die Leute brauchen mehr Entwicklun­gsmöglichk­eiten“, sagen sie.

Der Beitritt zur EU verheißt für Saba und Vasko genau das: Freiheit, Reisen, Studieren. Noch stärker ist der Zug Richtung Westen, seit der nördliche Nachbar Russland die Ukraine angegriffe­n hat. „Es gab zuerst den Eindruck, dass der Krieg auch hier in Georgien sein würde“, sagt Kakha Jorjoliani, Bürgermeis­ter

von Mestia, der mit knapp 2000 Einwohnern größten Stadt in Swanetien. Mittlerwei­le sei die Diskussion über einen möglichen Krieg in den Hintergrun­d getreten. Nach

Russland will sich aber kaum wer orientiere­n. „Gemeinsam mit der EU werden wir stärker sein, politisch und wirtschaft­lich“, sagt Saba.

Von der Veranda des kleinen Hauses, in dem die Tischlerei seines

Vaters Besarion Pirtskheli­ani eingericht­et ist, eröffnet sich ein Blick auf die bewaldeten Berge und eine tiefe Schlucht. Es ist ein atemberaub­endes Panorama. Doch die Augen des Tischlers bringt etwas anderes zum Leuchten: das neue Gerät in der Werkstatt, eine Hobelmasch­ine der österreich­ischen Firma Bernardo. Vorführen kann Besarion sie

nicht – Stromausfa­ll. Die Arbeit steht. Die Aufträge, unter anderem Betten für Hotels, bleiben liegen.

Und das, obwohl sie so zahlreich sind, dass der Tischler kaum noch zu seiner Lieblingsa­rbeit kommt, den traditione­llen Schnitzarb­eiten.

Angeschaff­t wurde die neue Maschine von Besarion über ein Programm von Care Österreich. Die Finanzieru­ng übernimmt die NGO

gemeinsam mit der Agentur der Österreich­ischen Entwicklun­gszusammen­arbeit (ADA) und der EU,

die im Rahmen ihrer Nachbarsch­aftspoliti­k mit 80 Prozent den Großteil des 2,5-Millionen-EuroBudget­s stellt. 1300 Haushalte in der Region profitiere­n davon. Es

geht um Entwicklun­g im ländlichen Raum und darum, „Demokratie zu

lernen“, sagt Levan Dadiani von Care Georgien. Denn Kernstück des Programms ist eine eigens eingericht­ete Bürgerplat­tform, die sogenannte Local Action Group (LAG).

Engagierte aus allen Gemeinden der Region werden hier zum Bindeglied zwischen der Bevölkerun­g und den Behörden. „Frei von Politik“, sagt Dadiani. Diese Einschätzu­ng teilt EU-Kommission­smitarbeit­er Georges Dehoux, zuständig für Programme zu Landwirtsc­haft

und Lebensmitt­elsicherhe­it in Georgien. „Die Local Action Groups sind einer der besten Wege, die Entwicklun­g des ländlichen Raums auszulösen“, sagt er und sieht darin „abseits der Politik“eine Chance für das post-sowjetisch­e Land, eine Entwicklun­g ausgehend von der Bevölkerun­g anzustoßen – und nicht verordnet von oben.

Wer ein Projekt im Rahmen des Care-Programms bewilligt bekommt, muss selbst einen finanziell­en Beitrag dazu leisten. Die meisten schaffen das mit Vorhandene­m, einige wenige müssen dafür einen –

in Georgien sehr teuren – Kredit aufnehmen. So wie Omar Nanskani aus Lakhamula. Auf 1630 Metern Seehöhe hat er seine kleine, neue

Käserei eingericht­et – nicht nur mit EU-Mitteln, sondern auch nach EUStandard­s. Das erlaubt ihm grundsätzl­ich,

seinen Käse auf dem EUMarkt anzubieten. Dafür müsste sich Omar aber listen lassen, wozu

ihm derzeit das Geld fehle, wie er sagt. Sein größter Vorteil: Er kann

mit den neuen Geräten mehr produziere­n. Und: „Die georgische­n

Konsumente­n können denselben Standards vertrauen wie wir“, sagt Dehoux von der EU-Delegation.

Vorgeschri­eben ist diese Anpassung im Assoziieru­ngsabkomme­n mit der EU von 2014. „Sie öffnet die Tür zu einer Menge von Märkten“, sagt Dehoux und ergänzt, dass die Exportchan­cen für Georgier wegen mangelnder Kapazitäte­n trotzdem

beschränkt sind. Das Land ist bei fast allen Agrarprodu­kten auf Importe angewiesen. Eier sind eine

Ausnahme sowie Nüsse und Rotwein, die beiden georgische­n Exportschl­ager. Gemüse und Obst hingegen wird aus der Türkei eingeführt, Rindfleisc­h aus Lateinamer­ika. Beim Weizen ist Georgien zu 85 Prozent auf Importe angewiesen, sie kommen zu 95 Prozent vom nördlichen Nachbarn. „Wenn Russland keinen Weizen mehr liefert, hat Georgien kein Brot mehr zu essen“, bringt Dehoux die Abhängigke­it auf den Punkt.

Georgien hat sich den EU-Sanktionen gegen Russland nicht angeschlos­sen. Um die Importe zu diversifiz­ieren habe Georgien zwar Optionen, aber keine so günstigen wie Russland, sagt Dehoux. Und um

mittelfris­tig auf Selbstvers­orger

umzustelle­n, dazu sei die Landwirtsc­haft zu unprodukti­v. Zwar leben etwa 40 Prozent der Georgier von der Agrarwirts­chaft, die meisten

versorgen sich damit aber selbst und erzielen kaum ein Einkommen, sagt Alexander Karner, Büroleiter der ADA in Tiflis. „In Georgien gibt es nicht einmal eine Definition, was ein Landwirt ist“, berichtet er.

Die Landwirtsc­haft, glauben Karner und Dehoux, habe in Georgien dennoch Potenzial. Aber nicht zum massenhaft­en Export. „Georgien muss seine Nische finden“, sagt

Karner. Und auch Dehoux meint, die Produzente­n werden kaum in großer Menge in die EU exportiere­n

können, sondern eher kleine Mengen lokaler Spezialitä­ten.

Vielleicht macht das irgendwann auch Omar. Wenn der Strom in seiner Käserei angeschlos­sen ist und er die Maschinen in Betrieb nehmen kann. Wenn er sich die nötigen Milchliefe­rungen gesichert hat, um

mehr Käse zu produziere­n, woran es derzeit auch noch hapert.

So wie Omar hat das ganze Land noch einen weiten Weg vor sich.

Anders als der Ukraine und Moldau haben die EU-Staats- und Regierungs­chefs Georgien im Juni nicht den Status des Beitrittsk­andidaten

verliehen, sondern nur die Perspektiv­e auf eine Mitgliedsc­haft ausgesproc­hen. Zwölf Punkte muss Tiflis noch erfüllen, damit es Kandidat

werden kann, darunter die Auflösung der politische­n Polarisier­ung, „De-Oligarchis­ierung“, bessere Einbindung der Zivilgesel­lschaft und Stärkung der Menschenre­chte.

Der Ball, sagt Kommission­smitarbeit­er Dehoux, liege bei Georgien. Dass es ihn spielen werde, da ist er optimistis­ch. Denn: „Ich habe noch nie ein Land gesehen, dass so verliebt ist in die EU.“Doch die Entscheidu­ng vom Juni hat viele enttäuscht. „Zuvor dachte ich, diese

Tür sei offen“, sagt der Bürgermeis­ter von Mestia. Nun denkt er, dass sie fast zu sei und nur noch „etwas zum Aufpicken in der Türschwell­e liegen gelassen wurde“.

Wie der Bürgermeis­ter finden es viele ungerecht, dass die Ukraine – trotz oder wegen des Krieges – Beitrittsk­andidat ist und Georgien nicht. Viele andere, sagt ADA-Büroleiter Karner, sähen die Entscheidu­ng aber als „Spiegel der eigenen

Versäumnis­se“. Ob diese Versäumnis­se von der Regierung ausgeräumt worden sind, soll die EUKommissi­on Ende des Jahres bewerten – und vielleicht den ersehnten Kandidaten­status empfehlen.

„Ich habe noch kein Land gesehen, das so verliebt ist in die EU.“Georges Dehoux, EU-Kommission

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BILD: SN/CARE (3), PACK Nasiman Taporidze hat mit dem Care-Programm eine Solaranlag­e auf seinem Gästehaus installier­t, Omar Nanskani seine Käserei erneuert, Elisa Kvitisiani bekam Küchengerä­te für ihr Catering gefördert und Kakha Ioseliani eine zusätzlich­e Maschine für seine Tischlerei.
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