Das größere Europa formiert sich gegen Putin
In Prag feiert eine Gruppe ungleicher Freunde Premiere. Österreichs Kanzler kommt zu spät.
PRAG. Entlang der Straße, die auf den Prager Burgberg Hradschin
führt, hat die Polizei Absperrgitter errichtet. Die letzten 200 Meter säumen am Donnerstag Schaulustige. Im Hof zur Burg, dort, wo der rote Teppich wartet, ragen Kameras
und Mikrofone in die Höhe. Insgesamt haben sich 1600 Journalisten in der tschechischen Hauptstadt
versammelt – zu einem Schauspiel, das sich nicht alle Tage bietet. Aber auch das hat der Krieg Wladimir Putins in der Ukraine möglich gemacht. Die Spitzen von mehr als 40 Staaten kommen in Prag zu einem Gipfel zusammen, den es so noch nie gegeben hat. Eine neue Europäische Politische Gemeinschaft entsteht – auch wenn nicht alle Teilnehmerstaaten geografisch zu Europa gehören. Erfunden hat das Format Emmanuel Macron. Wer sonst?
Gastgeber aber ist Petr Fiala, der tschechische Regierungschef. Er
begrüßt Politiker und Politikerinnen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten: Liz Truss, die neue
britische Premierministerin, die zu Hause unter gewaltigem Druck steht; Recep Tayyip Erdoğan, den starken Mann vom Bosporus; die
bekannten Europäer aus dem Klub der EU-27 und die Westbalkanvertreter. Aus Kiew ist Regierungschef Denys Schmyhal angereist. Aber auch seltenere Gäste sind dabei wie
Ilham Aliyev, der Präsident Aserbaidschans,
und Nikol Paschinjan, der Regierungschef Armeniens.
Dabei führen Armenien und Aserbaidschan im Südkaukasus Krieg gegeneinander. Trotzdem reihen sich ihre Spitzenpolitiker mit den anderen Gipfelteilnehmern zum gemeinsamen Familienfoto auf. Denn das Bild ist die Botschaft: Europa und alle, die sich kulturell, historisch und politisch dazuzählen, verurteilen den Krieg Putins. Nur zwei fehlen auf dem Familienfoto:
Die Dänin Mette Frederiksen, die zu Hause eine Regierungskrise hat. Bundeskanzler Karl Nehammer kommt wegen der in Wien abgehaltenen Pressekonferenz zum Heeresbudget zu spät.
Tschechiens Premierminister Fiala erinnert daran, dass 1968 russische Panzer den Prager Frühling niedergewalzt haben. „Dies fasst
unsere Erfahrung mit der Politik Moskaus zusammen.“Liz Truss will „sicherstellen, dass Putin verliert“. Großbritannien unterstützt neben den USA die Ukraine am meisten.
Auf ein Abschlussdokument des Gipfels wird bewusst verzichtet. Es
geht ums Reden – „einfach frei von einer Tagesordnung und von der Notwendigkeit, Beschlüsse zu fassen“, wie der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz sagt. So könne die
EU ihre Beziehungen zu den Nachbarn verbessern, von denen viele so schnell wie möglich Mitglied im Klub der 27 werden wollen.
Frankreichs Präsident Macron hat im Mai die „Neue Politische Gemeinschaft“vorgeschlagen, nachdem die Ukraine ihren Antrag auf
Aufnahme gestellt hat. Macron, der einer weiteren EU-Erweiterung schon lange skeptisch gegenübersteht, wollte damit den Druck aus der Beitrittsdebatte nehmen. Das ist
ihm gelungen. Allerdings werden alle Länder, die beitreten wollen – die Westbalkanstaaten, die Ukraine, Georgien und Moldau –, sich nicht mit einer Zusammenarbeit auf informeller Ebene abspeisen
lassen. „Das sollte kein Ersatz für einen Beitrittsprozess sein“, deponierte die ukrainische Vizeregierungschefin
Olha Stefanischyna
vorsorglich in einem Interview bereits im Vorfeld.
Mit Argusaugen wird man jedenfalls in der OSZE und im Europarat das neue Format betrachten, das da
in Prag seine Premiere feiert. Beide Organisationen scheinen abgemeldet und haben kaum beigetragen zum Umgang mit dem Aggressor aus dem Kreml. Die Staatenlenker
in Prag hingegen sind entschlossen, die neue Europäische Politische Gemeinschaft mit halbjährlichen Treffen zu etablieren. Dem Vernehmen nach sind die nächsten Treffen
bereits geplant – beginnend mit einem Gipfel im Mai in Moldau, gefolgt von Spanien und Großbritannien. Dann hätte Fiala recht, wenn er sagt, „dass dies ein großer Tag für
Europa ist“.