„Die Ost- und die Westküste wegspülen“
Warum sich Russland am Abgrund zum atomaren Krieg einzurichten scheint.
1962 wurde vor Kuba das mit Kernwaffen bestückte sowjetische U-Boot B-59 von amerikanischen Kriegsschiffen mit Wasserbomben beworfen. Der Kapitän hatte keinen Funkkontakt zum eigenen Kommando und glaubte, der Dritte
Weltkrieg sei ausgebrochen. Er wollte befehlen, mit Nukleartorpedos zurückzuschießen. Aber sein Stellvertreter und ein weiterer ranghoher Offizier an Bord überredeten ihn, sich mit einem Signal an den Gegner zu begnügen, die Provokationen einzustellen.
Diese Geschichte kreist 60 Jahre später erneut in Moskau. Aber auch Onlineaufrufe, die Ukraine in Schutt und Asche zu legen. Und politisch Extreme wie Tschetschenenchef Ramsan Kadyrow, den Präsident Wladimir Putin zuletzt zum Generaloberst befördert hat, fordern dort den Einsatz „von Kernwaffen
mit geringer Leistungskraft“in einem Atemzug mit der Verhängung des Kriegsrechts in den Grenzregionen. Russland scheint sich diesmal am Abgrund zum atomaren Krieg einzurichten.
Nach Putins Unterschrift wurden die Annexionen der besetzten Gebiete in der Ostukraine rechtskräftig, eine heikle Lage: Ein großer Teil der Gebiete wird weiter von ukrainischen Truppen kontrolliert oder gerade zurückerobert. Wladimir Putin drohte mehrfach, wenn jemand die territoriale Unversehrtheit Russlands antaste, werde man alle zur
Verfügung stehenden Mittel einsetzen. „Das ist kein Bluff.“
Seit Wochen diskutieren ultrarechte Blogger und Propagandisten atomare Rache für die Schlappen an der Front. Jemand will demonstrativ die Schlangeninsel vor Odessa mit einem nuklearen Sprengsatz in die
Luft jagen, jemand fordert einen atomaren Enthauptungsschlag gegen
die Hauptstadt Kiew. „Wenn ein Sieg der Ukraine oder ein globaler
Atomkrieg zur Wahl stehen“, postet der Turbonationalist Jegor Cholmogorow, „ist der Atomkrieg vorzuziehen.“
Oder wie der TV-Propagandist Konstantin Siwkow jubelt: „Die Wellen des Poseidon spülen die West- und die Ostküste der USA völlig weg, wo sich 90 Prozent der USIndustrie
und 80 Prozent der Bevölkerung konzentrieren.“
In Russland blufft man gern. Militärexperte Viktor Litwinow meint, dass Präsident, Verteidigungsminister und Generalstabschef nur in
jenen Fällen die Knöpfe zum Start der Atomraketen drücken, die die
russische Militärdoktrin vorsieht: „Als Antwort auf einen Atomschlag, auf einen Angriff von Atomwaffenstaaten oder einen Angriff, der die Existenz Russlands bedroht.“In der
Ukraine sieht er den nuklearen Verteidigungsfall konkret dann, wenn „Nato-Truppen die russischen Gebiete dort angreifen“.
Westliche Militärkreise bezweifeln den Einsatz taktischer Atomraketen auf ukrainischem Gebiet ebenfalls. Aber fast alle sind sich einig, dass die Frage am Ende im Kopf Wladimir Putins entschieden wird. Wichtiger als alle Argumente sei es, Putin zu zeigen, dass er selbst nicht
ungeschoren davonkomme.