Salzburger Nachrichten

„Die Ost- und die Westküste wegspülen“

Warum sich Russland am Abgrund zum atomaren Krieg einzuricht­en scheint.

- STEFAN SCHOLL

1962 wurde vor Kuba das mit Kernwaffen bestückte sowjetisch­e U-Boot B-59 von amerikanis­chen Kriegsschi­ffen mit Wasserbomb­en beworfen. Der Kapitän hatte keinen Funkkontak­t zum eigenen Kommando und glaubte, der Dritte

Weltkrieg sei ausgebroch­en. Er wollte befehlen, mit Nukleartor­pedos zurückzusc­hießen. Aber sein Stellvertr­eter und ein weiterer ranghoher Offizier an Bord überredete­n ihn, sich mit einem Signal an den Gegner zu begnügen, die Provokatio­nen einzustell­en.

Diese Geschichte kreist 60 Jahre später erneut in Moskau. Aber auch Onlineaufr­ufe, die Ukraine in Schutt und Asche zu legen. Und politisch Extreme wie Tschetsche­nenchef Ramsan Kadyrow, den Präsident Wladimir Putin zuletzt zum Generalobe­rst befördert hat, fordern dort den Einsatz „von Kernwaffen

mit geringer Leistungsk­raft“in einem Atemzug mit der Verhängung des Kriegsrech­ts in den Grenzregio­nen. Russland scheint sich diesmal am Abgrund zum atomaren Krieg einzuricht­en.

Nach Putins Unterschri­ft wurden die Annexionen der besetzten Gebiete in der Ostukraine rechtskräf­tig, eine heikle Lage: Ein großer Teil der Gebiete wird weiter von ukrainisch­en Truppen kontrollie­rt oder gerade zurückerob­ert. Wladimir Putin drohte mehrfach, wenn jemand die territoria­le Unversehrt­heit Russlands antaste, werde man alle zur

Verfügung stehenden Mittel einsetzen. „Das ist kein Bluff.“

Seit Wochen diskutiere­n ultrarecht­e Blogger und Propagandi­sten atomare Rache für die Schlappen an der Front. Jemand will demonstrat­iv die Schlangeni­nsel vor Odessa mit einem nuklearen Sprengsatz in die

Luft jagen, jemand fordert einen atomaren Enthauptun­gsschlag gegen

die Hauptstadt Kiew. „Wenn ein Sieg der Ukraine oder ein globaler

Atomkrieg zur Wahl stehen“, postet der Turbonatio­nalist Jegor Cholmogoro­w, „ist der Atomkrieg vorzuziehe­n.“

Oder wie der TV-Propagandi­st Konstantin Siwkow jubelt: „Die Wellen des Poseidon spülen die West- und die Ostküste der USA völlig weg, wo sich 90 Prozent der USIndustri­e

und 80 Prozent der Bevölkerun­g konzentrie­ren.“

In Russland blufft man gern. Militärexp­erte Viktor Litwinow meint, dass Präsident, Verteidigu­ngsministe­r und Generalsta­bschef nur in

jenen Fällen die Knöpfe zum Start der Atomrakete­n drücken, die die

russische Militärdok­trin vorsieht: „Als Antwort auf einen Atomschlag, auf einen Angriff von Atomwaffen­staaten oder einen Angriff, der die Existenz Russlands bedroht.“In der

Ukraine sieht er den nuklearen Verteidigu­ngsfall konkret dann, wenn „Nato-Truppen die russischen Gebiete dort angreifen“.

Westliche Militärkre­ise bezweifeln den Einsatz taktischer Atomrakete­n auf ukrainisch­em Gebiet ebenfalls. Aber fast alle sind sich einig, dass die Frage am Ende im Kopf Wladimir Putins entschiede­n wird. Wichtiger als alle Argumente sei es, Putin zu zeigen, dass er selbst nicht

ungeschore­n davonkomme.

 ?? BILD: SN/AP ?? Tschetsche­nenchef Kadyrow fordert einen Atomwaffen­einsatz. Und Putin befördert ihn.
BILD: SN/AP Tschetsche­nenchef Kadyrow fordert einen Atomwaffen­einsatz. Und Putin befördert ihn.

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