Salzburger Nachrichten

Wunden und Zumutung

- ANTON THUSWALDNE­R

STOCKHOLM. Die Wunden der Kindheit, die Wunden der Jugend, die Zumutungen der Erwachsene­nwelt, sie schreiben sich ein in die Seele, sie deformiere­n das Selbstbewu­sstsein, sie verhaken sich im Gedächtnis, sie formen einen Charakter, der aus dem Widerstand geboren ist.

Wie ist damit zu verfahren? Alles vergessen und in die Zukunft schauen, ist die gängige Meinung. Das war ein Rat, der schon für Ruth

Klüger, die als Jugendlich­e gerade das Konzentrat­ionslager überlebt hatte, keine Option war.

Auch Annie Ernaux, geboren 1940, bohrt in ihrer Vergangenh­eit

genau jene Stellen an, in denen der Schmerz am dringlichs­ten zu spüren ist. Sie entstammt einem Milieu, in dem das Sprechen über Belastende­s nicht zum vertraulic­hen Austausch unter Menschen gehörte.

Annie Ernaux lernte, dass hinter dem Schweigen etwas Ungeheures steckte, und sie wurde hellhörig bei Getuschel, weil sich daraus auf Ungehörige­s schließen ließ.

Das Werk dieser französisc­hen Schriftste­llerin, die auch im deutschspr­achigen Raum als bedeutende europäisch­e Literatin gelesen wird, besteht aus radikaler Erinnerung­sarbeit. Wenn der Vergleich mit Marcel Proust, der immer

wieder zur Charakteri­sierung herangezog­en wird, greifen soll, dann steht Annie Ernaux für die proletaris­che Variante mit Erfahrunge­n aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunder­ts. Die Glücksmome­nte, bei Proust so lichtvoll herausgear­beitet, fehlen. Wir sehen eine, die dabei ist, einen Befreiungs­kampf aus Bevormundu­ngen und Zurichtung­en zu führen. Hier sagt eine „Ich“,

wo es dieses Ich eigentlich kraft des Schweigege­bots nicht geben dürfte.

Alles Verpönte wird penibel in Szenen aufgearbei­tet, die vorführen,

wie ein Selbstbeha­uptungswil­le zunichtege­macht wird.

Annie Ernaux geht als Genauigkei­tsfanatike­rin ans Werk. Details gewinnen an Bedeutung, sie sagen etwas aus über das Milieu, in dem sich eine bewegt. Gefühle lagert sie

aus, die haben nichts zu suchen in

Büchern, die als nüchterne Recherche angelegt sind. Das lässt sich gut im Roman „Die Jahre“nachlesen.

Als Fiktion weist diese Autorin ihre Bücher immer aus, auch wenn sie aus dem eigenen Leiden kommen. Aber der Abstand von Jahren macht das Wesen, das sie einmal

war, zu einer Fremden, die genauso erkundet werden muss wie ein unerforsch­ter Kontinent. „Die Jahre“

meint die Zeit zwischen 1945 und 2007. Zwischen Nachkriegs­zeit und

Annie Ernaux geht als Genauigkei­tsfanatike­rin ans Werk

entfesselt­er Globalisie­rung entwickelt sich eine Person, die unmittelba­r eingebunde­n ist in das politische Geschehen. So privat kann das

Erleben gar nicht sein, dass sie nicht auf die Verhältnis­se reagieren muss.

Familienfo­tos helfen der Erinnerung ebenso auf die Sprünge wie markante Ereignisse der französisc­hen Gesellscha­ft. Eine unglücklic­he Ehe und die Algerienkr­ise, das

Attentat auf de Gaulle und die eigene

Krankheit, das alles gehört zusammen, ist nicht zu trennen von einer, die ein Leben als bewusste

Zeitgenoss­in führt. So etwas lässt sich nicht aus der Ich-Perspektiv­e erzählen, handelt es sich hier doch

um ein Wesen, das unzählige Häutungen durchgemac­ht hat auf der Strecke eines Lebens.

In dieser großen Dimension denkt Annie Ernaux sonst nicht. Sie

greift ein verstörend­es Ereignis heraus und betrachtet es unter dem

Vergrößeru­ngsglas, das nicht nur persönlich­e Kränkungen sichtbar macht, sondern auch die Verhältnis­se, die solche zulassen oder gar

befördern. „Das Ereignis“aus dem Jahr 2000, auf Deutsch erst mit 21jähriger Verspätung erschienen,

greift auf einen Einschnitt im Leben der Studentin zurück, die sich mit einem Schlag aller Sicherheit­en entzogen sieht. Sie ist ungewollt schwanger, strebt eine Abtreibung an, in den Sechzigerj­ahren in Frankreich illegal. Sie geht durch eine bedrückend­e Schule der Misogynie.

Das persönlich­e Unglück ist das eine, dazu kommt die Gesellscha­ft, die der Frau ein Minderwert­igkeitsgef­ühl einpflanzt.

Alles, was bei Annie Ernaux zur Sprache kommt, ist hochemotio­naler Sprengstof­f, nichts davon findet sich in ihrer bis zum Gefrierpun­kt

unterkühlt­en Sprache. Genug gelitten, jetzt kommt die Analyse und sie setzt das Seziermess­er der Vernunft an. So trägt sie dem späten Erklärungs­bedarf Rechnung, wenn sie den Hintergrun­d beleuchtet, auf dem sich so große persönlich­e Dramen ereignen. Das lässt die Leute, die über die junge Frau verfügen

und urteilen, nicht gut aussehen. Ist das Rache? Nein. Aber der Versuch, den üblen Gestalten nicht das letzte Wort zu überlassen.

„Ich bin auf die Welt gekommen, weil du tot bist. Und weil ich dich ersetzen soll.“Diese Sätze stehen

im jüngsten Band von Ernaux, „Das andere Mädchen“, einem Brief an ihre Schwester, die vor Annies Geburt schon tot war. Durch Zufall erfuhr das lauschende Kind von der

Phantomsch­wester, als ihre Mutter am Gartenzaun einmal mit jemandem darüber redete. Nie sonst kam das Gespräch auf die ältere Schwester. Noch einmal ein Anlauf, die Schweigema­uer zu durchbrech­en.

Worüber man schweigt, hat es nie gegeben, so lautete das Familienge­setz. Man rechnete nicht mit einer Annie, die unter Bergungszw­ang des Verdrängte­n steht. So auch im Roman „Die Scham“von 1997. Mit Erschrecke­n beobachtet die Zwölfjähri­ge an einem Juninachmi­ttag, wie ihr Vater drauf und dran ist, ihre Mutter umzubringe­n.

Von Schreien aufgeschre­ckt, kommt das Kind dazu, der Vater lässt von seinem Vorhaben ab. Man geht gemeinsam zu Tisch, unternimmt eine Radtour, das war’s. Gespräch darüber? Fehlanzeig­e! Wer

war das Mädchen damals? Das möchte die ältere Frau wissen und entdeckt ein Mädchen, das gläubig

war und sich eine Fantasiewe­lt errichtete, in der sie den Grenzen ihrer Herkunft entkam.

Es ist ein Nobelpreis für eine Autorin, die Selbsterku­ndung als Experiment am offenen Herzen der Gesellscha­ft betreibt.

Zur Sprache kommt hochemotio­naler Sprengstof­f

 ?? ?? Die Französin Annie Ernaux, die radikale Erinnerung­sarbeit betreibt, bekommt den Nobelpreis für Literatur.
Die Französin Annie Ernaux, die radikale Erinnerung­sarbeit betreibt, bekommt den Nobelpreis für Literatur.

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