Wunden und Zumutung
STOCKHOLM. Die Wunden der Kindheit, die Wunden der Jugend, die Zumutungen der Erwachsenenwelt, sie schreiben sich ein in die Seele, sie deformieren das Selbstbewusstsein, sie verhaken sich im Gedächtnis, sie formen einen Charakter, der aus dem Widerstand geboren ist.
Wie ist damit zu verfahren? Alles vergessen und in die Zukunft schauen, ist die gängige Meinung. Das war ein Rat, der schon für Ruth
Klüger, die als Jugendliche gerade das Konzentrationslager überlebt hatte, keine Option war.
Auch Annie Ernaux, geboren 1940, bohrt in ihrer Vergangenheit
genau jene Stellen an, in denen der Schmerz am dringlichsten zu spüren ist. Sie entstammt einem Milieu, in dem das Sprechen über Belastendes nicht zum vertraulichen Austausch unter Menschen gehörte.
Annie Ernaux lernte, dass hinter dem Schweigen etwas Ungeheures steckte, und sie wurde hellhörig bei Getuschel, weil sich daraus auf Ungehöriges schließen ließ.
Das Werk dieser französischen Schriftstellerin, die auch im deutschsprachigen Raum als bedeutende europäische Literatin gelesen wird, besteht aus radikaler Erinnerungsarbeit. Wenn der Vergleich mit Marcel Proust, der immer
wieder zur Charakterisierung herangezogen wird, greifen soll, dann steht Annie Ernaux für die proletarische Variante mit Erfahrungen aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Glücksmomente, bei Proust so lichtvoll herausgearbeitet, fehlen. Wir sehen eine, die dabei ist, einen Befreiungskampf aus Bevormundungen und Zurichtungen zu führen. Hier sagt eine „Ich“,
wo es dieses Ich eigentlich kraft des Schweigegebots nicht geben dürfte.
Alles Verpönte wird penibel in Szenen aufgearbeitet, die vorführen,
wie ein Selbstbehauptungswille zunichtegemacht wird.
Annie Ernaux geht als Genauigkeitsfanatikerin ans Werk. Details gewinnen an Bedeutung, sie sagen etwas aus über das Milieu, in dem sich eine bewegt. Gefühle lagert sie
aus, die haben nichts zu suchen in
Büchern, die als nüchterne Recherche angelegt sind. Das lässt sich gut im Roman „Die Jahre“nachlesen.
Als Fiktion weist diese Autorin ihre Bücher immer aus, auch wenn sie aus dem eigenen Leiden kommen. Aber der Abstand von Jahren macht das Wesen, das sie einmal
war, zu einer Fremden, die genauso erkundet werden muss wie ein unerforschter Kontinent. „Die Jahre“
meint die Zeit zwischen 1945 und 2007. Zwischen Nachkriegszeit und
Annie Ernaux geht als Genauigkeitsfanatikerin ans Werk
entfesselter Globalisierung entwickelt sich eine Person, die unmittelbar eingebunden ist in das politische Geschehen. So privat kann das
Erleben gar nicht sein, dass sie nicht auf die Verhältnisse reagieren muss.
Familienfotos helfen der Erinnerung ebenso auf die Sprünge wie markante Ereignisse der französischen Gesellschaft. Eine unglückliche Ehe und die Algerienkrise, das
Attentat auf de Gaulle und die eigene
Krankheit, das alles gehört zusammen, ist nicht zu trennen von einer, die ein Leben als bewusste
Zeitgenossin führt. So etwas lässt sich nicht aus der Ich-Perspektive erzählen, handelt es sich hier doch
um ein Wesen, das unzählige Häutungen durchgemacht hat auf der Strecke eines Lebens.
In dieser großen Dimension denkt Annie Ernaux sonst nicht. Sie
greift ein verstörendes Ereignis heraus und betrachtet es unter dem
Vergrößerungsglas, das nicht nur persönliche Kränkungen sichtbar macht, sondern auch die Verhältnisse, die solche zulassen oder gar
befördern. „Das Ereignis“aus dem Jahr 2000, auf Deutsch erst mit 21jähriger Verspätung erschienen,
greift auf einen Einschnitt im Leben der Studentin zurück, die sich mit einem Schlag aller Sicherheiten entzogen sieht. Sie ist ungewollt schwanger, strebt eine Abtreibung an, in den Sechzigerjahren in Frankreich illegal. Sie geht durch eine bedrückende Schule der Misogynie.
Das persönliche Unglück ist das eine, dazu kommt die Gesellschaft, die der Frau ein Minderwertigkeitsgefühl einpflanzt.
Alles, was bei Annie Ernaux zur Sprache kommt, ist hochemotionaler Sprengstoff, nichts davon findet sich in ihrer bis zum Gefrierpunkt
unterkühlten Sprache. Genug gelitten, jetzt kommt die Analyse und sie setzt das Seziermesser der Vernunft an. So trägt sie dem späten Erklärungsbedarf Rechnung, wenn sie den Hintergrund beleuchtet, auf dem sich so große persönliche Dramen ereignen. Das lässt die Leute, die über die junge Frau verfügen
und urteilen, nicht gut aussehen. Ist das Rache? Nein. Aber der Versuch, den üblen Gestalten nicht das letzte Wort zu überlassen.
„Ich bin auf die Welt gekommen, weil du tot bist. Und weil ich dich ersetzen soll.“Diese Sätze stehen
im jüngsten Band von Ernaux, „Das andere Mädchen“, einem Brief an ihre Schwester, die vor Annies Geburt schon tot war. Durch Zufall erfuhr das lauschende Kind von der
Phantomschwester, als ihre Mutter am Gartenzaun einmal mit jemandem darüber redete. Nie sonst kam das Gespräch auf die ältere Schwester. Noch einmal ein Anlauf, die Schweigemauer zu durchbrechen.
Worüber man schweigt, hat es nie gegeben, so lautete das Familiengesetz. Man rechnete nicht mit einer Annie, die unter Bergungszwang des Verdrängten steht. So auch im Roman „Die Scham“von 1997. Mit Erschrecken beobachtet die Zwölfjährige an einem Juninachmittag, wie ihr Vater drauf und dran ist, ihre Mutter umzubringen.
Von Schreien aufgeschreckt, kommt das Kind dazu, der Vater lässt von seinem Vorhaben ab. Man geht gemeinsam zu Tisch, unternimmt eine Radtour, das war’s. Gespräch darüber? Fehlanzeige! Wer
war das Mädchen damals? Das möchte die ältere Frau wissen und entdeckt ein Mädchen, das gläubig
war und sich eine Fantasiewelt errichtete, in der sie den Grenzen ihrer Herkunft entkam.
Es ist ein Nobelpreis für eine Autorin, die Selbsterkundung als Experiment am offenen Herzen der Gesellschaft betreibt.
Zur Sprache kommt hochemotionaler Sprengstoff