„Ihr Stil ist eine soziale Entscheidung“
Die Leiterin des Instituts für Romanistik der Universität Wien erläutert das Werk von Annie Ernaux.
Dass der Nobelpreis für Literatur an Annie Ernaux und somit erneut nach Frankreich geht, überrascht die Leiterin des Instituts für Romanistik an der Universität Wien, Teresa Hiergeist.
SN: Haben Sie erwartet, dass Annie Ernaux den Nobelpreis bekommt?
Teresa Hiergeist: Mich überrascht es schon, dass der Literaturnobelpreis schon wieder nach Frankreich geht, nachdem er 2014 an Patrick Modiano und 2008 an Jean-Marie Gustave Le Clézio vergeben worden ist.
Welche Rolle nimmt Annie Ernaux in der zeitgenössischen französischen Literatur ein?
SN:
Annie Ernaux’ Schreiben wird häufig als autofiktional oder soziofiktional bezeichnet. Autofiktional
heißt, sie verschmilzt Autobiografisches mit Fiktivem, wodurch ihre
Texte einen halb dokumentarischen Charakter bekommen und deshalb authentisch, realitätsbezogen und nah an den Lesenden sind. Soziofiktional heißt, ihr Fokus liegt auf der Frage, wie die gesellschaftliche Klasse das Handeln determiniert. Sie stammt selbst aus einer Familie der Arbeiterklasse und legt in ihren Texten die Beschränkungen und Schwierigkeiten bloß, auf die man mit diesem Hintergrund im Alltag stößt.
Ernaux ist bekannt für die sogenannte „écriture plate“(Deutsch: „platte Schreibweise“), die auf jegliche rhetorische Ausschmückung
verzichtet und sehr nüchtern ist. Dieser Stil ist im Grunde auch eine soziale Entscheidung, weil er sich
vom bürgerlichen Verständnis von Literatur als elitärem Kunstwerk distanziert. Ernaux hat immer eine
höchst kritische Haltung gegenüber der bürgerlichen Institution „Literatur“an den Tag gelegt, weshalb es fast eine Ironie des Schicksals ist, dass sie mit dem Nobelpreis
im Epizentrum der bürgerlichen Kultur angekommen ist.
Was macht ihr Werk aus Ihrer Sicht nobelpreiswürdig?
SN:
Annie Ernaux’ Werk legt Zeugnis davon ab, wie es ist, in den 1950erund 1960er-Jahren als Frau in der
Arbeiterklasse aufzuwachsen. Sie macht Milieus und Themen sichtbar, die in Literatur vorher, zumal von einer Frau formuliert, nicht wirklich Beachtung fanden. Insofern ist ihr Verdienst auch ein feministischer.
Sie ist sicher keine klassische Kandidatin für einen Nobelpreis, aber die Literatur und auch die
Wahrnehmung von Literatur hat sich in den vergangenen Jahrzehnten sehr verändert. Davon ist die Preisvergabe Zeugnis.