Die Verkopfung hat ein kritisches Ausmaß erreicht
Wir leben in einer Zeit, in der man glaubt, alle noch länger in Ausbildungen zwängen zu müssen. Eine Fehlentwicklung.
Ab Jänner 2022 ging schließlich die ganze Familie auf die HTL. Und zwar so: Der Vater wurde eingespannt, um dem Sohn bei Hausübungen und Schularbeiten in Mathe und Englisch unter die Arme zu greifen, die Mutter übernahm drei weitere Fächer, weitere drei der ältere Stiefbruder. Doch der kollektive Kraftakt fruchtete nicht: Der Sohn flog am Ende doch von der HTL. Widerwillig wurde Plan B aktiviert: Eine Lehrstelle musste her.
Mittlerweile ist Oktober 2022, die ersten Wochen im neuen Leben als MechatronikerLehrling in einer großen Werkstätte sind vorbei. Die Eltern erzählen vom großen Aha-Erlebnis: Der Lehrling wurde erstens noch nie für niedrige Arbeiten wie Wurstsemmelholen
missbraucht und zweitens haben die anderen Lehrlinge nicht so wenig in der Birne, wie sie
gedacht hatten. Also doch kein Niveauverlust. Das große Aufatmen kann beginnen.
Dieses Erlebnis einer Akademikerfamilie in
Wien ist kein Einzelfall, sondern passiert jedes Jahr hundert- bis tausendfach. Es ist typisch für die Verkopfung, in die wir junge Menschen
beim Übertritt ins Erwachsenenleben zwängen und die uns auf dem Arbeitsmarkt in Engpässe treibt, die nicht nur das Wirtschaftswachstum
bremsen, sondern sogar die Existenz vieler Unternehmen gefährden, insbesondere von Kleinund Mittelbetrieben: Mittlerweile fehlen mehr als 200.000 Fachkräfte auf dem österreichischen Arbeitsmarkt. Besonders schlimm ist der Facharbeitermangel, der mittlerweile selbst das große grüne Projekt gefährdet: Ohne Elektriker, Installateure, Ofenbauer und Maurer ist die Wende zu einer klimaneutralen Wirtschaft
nicht zu schaffen. Ein Teil dieses Problems ist, dass die Lehre systematisch unterschätzt wird und junge Menschen unreflektiert in immer längere Ausbildungen gesteckt werden.
Nur Schule, Matura und Studium brächten Aufstiegschancen heißt es, obwohl nicht jeder
Jugendliche für die viele Theorie geeignet ist, schon gar nicht in einer Phase, in der die Hormone alles durcheinanderbringen. Es gibt aber einen Gegentrend: Gerade weil der Alltag so stark von Digitalisierung bestimmt wird, interessieren sich wieder mehr Jugendliche für
praktische Arbeit mit den Händen und schöpfen Selbstwert aus greifbaren Resultaten. Diese Sehnsucht in einer ohnehin immer abstrakter werdenden Welt wird nicht einmal von berufsbildenden höheren Schulen in ausreichendem Maß befriedigt. Daher muss man alles tun, um der Lehre den eintrainierten Schrecken zu
nehmen, Stichwort Lehre mit Matura, Erwachsenenmatura, duale Akademie. Es ist viel unterwegs, doch wir brauchen noch mehr Tempo.