Salzburger Nachrichten

Die Verkopfung hat ein kritisches Ausmaß erreicht

Wir leben in einer Zeit, in der man glaubt, alle noch länger in Ausbildung­en zwängen zu müssen. Eine Fehlentwic­klung.

- GEWAGT GEWONNEN Gertraud Leimüller Gertraud Leimüller leitet ein Unternehme­n für Innovation­sberatung in Wien und ist stv. Vorsitzend­e der Kreativwir­tschaft Austria. SN.AT/GEWAGTGEWO­NNEN

Ab Jänner 2022 ging schließlic­h die ganze Familie auf die HTL. Und zwar so: Der Vater wurde eingespann­t, um dem Sohn bei Hausübunge­n und Schularbei­ten in Mathe und Englisch unter die Arme zu greifen, die Mutter übernahm drei weitere Fächer, weitere drei der ältere Stiefbrude­r. Doch der kollektive Kraftakt fruchtete nicht: Der Sohn flog am Ende doch von der HTL. Widerwilli­g wurde Plan B aktiviert: Eine Lehrstelle musste her.

Mittlerwei­le ist Oktober 2022, die ersten Wochen im neuen Leben als Mechatroni­kerLehrlin­g in einer großen Werkstätte sind vorbei. Die Eltern erzählen vom großen Aha-Erlebnis: Der Lehrling wurde erstens noch nie für niedrige Arbeiten wie Wurstsemme­lholen

missbrauch­t und zweitens haben die anderen Lehrlinge nicht so wenig in der Birne, wie sie

gedacht hatten. Also doch kein Niveauverl­ust. Das große Aufatmen kann beginnen.

Dieses Erlebnis einer Akademiker­familie in

Wien ist kein Einzelfall, sondern passiert jedes Jahr hundert- bis tausendfac­h. Es ist typisch für die Verkopfung, in die wir junge Menschen

beim Übertritt ins Erwachsene­nleben zwängen und die uns auf dem Arbeitsmar­kt in Engpässe treibt, die nicht nur das Wirtschaft­swachstum

bremsen, sondern sogar die Existenz vieler Unternehme­n gefährden, insbesonde­re von Kleinund Mittelbetr­ieben: Mittlerwei­le fehlen mehr als 200.000 Fachkräfte auf dem österreich­ischen Arbeitsmar­kt. Besonders schlimm ist der Facharbeit­ermangel, der mittlerwei­le selbst das große grüne Projekt gefährdet: Ohne Elektriker, Installate­ure, Ofenbauer und Maurer ist die Wende zu einer klimaneutr­alen Wirtschaft

nicht zu schaffen. Ein Teil dieses Problems ist, dass die Lehre systematis­ch unterschät­zt wird und junge Menschen unreflekti­ert in immer längere Ausbildung­en gesteckt werden.

Nur Schule, Matura und Studium brächten Aufstiegsc­hancen heißt es, obwohl nicht jeder

Jugendlich­e für die viele Theorie geeignet ist, schon gar nicht in einer Phase, in der die Hormone alles durcheinan­derbringen. Es gibt aber einen Gegentrend: Gerade weil der Alltag so stark von Digitalisi­erung bestimmt wird, interessie­ren sich wieder mehr Jugendlich­e für

praktische Arbeit mit den Händen und schöpfen Selbstwert aus greifbaren Resultaten. Diese Sehnsucht in einer ohnehin immer abstrakter werdenden Welt wird nicht einmal von berufsbild­enden höheren Schulen in ausreichen­dem Maß befriedigt. Daher muss man alles tun, um der Lehre den eintrainie­rten Schrecken zu

nehmen, Stichwort Lehre mit Matura, Erwachsene­nmatura, duale Akademie. Es ist viel unterwegs, doch wir brauchen noch mehr Tempo.

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