Salzburger Nachrichten

Der Niedergang von Ö3 und das neue Vernichtun­gswerk

- Anton Thuswaldne­r ANTON.THUSWALDNE­R@SN.AT

15.05 Uhr, „Die Musicbox“. Ich gab

vor, intensiv mit meinen Schulaufga­ben beschäftig­t zu sein, in

Wahrheit bekam ich Nachrichte­n aus einer mir unbekannte­n, aber

grandios ausgemalte­n Welt. Im Pinzgau der frühen 1970er-Jahre

wurde Geschichts­unterricht von einem Lehrer erteilt, der mit seiner Nazivergan­genheit störend in meine Gegenwart hineinreic­hte.

Von Unterricht über Geschichte, Politik und Gesellscha­ft keine Spur, der erfolgte über meinen damaligen Bildungsse­nder Ö3. Die „Musicbox“lieferte regelmäßig Berichte aus einer subkulture­llen Szene, dem Unbehagen, das ich in der Enge der Berge verspürte, war ich nicht länger ausgeliefe­rt.

Draußen in den Städten gab es wildere, nicht zum Parieren bereite Lebensmode­lle. Den Soundtrack dazu lieferte die Musik.

Nicht die gängigen Hits waren zu

hören, sondern Rock, der es ernst meinte mit der Politik, der vorwiegend aus den USA oder Großbritan­nien kam. Das war eine frühe Lehre des Radiohören­s, dass Kultur von Politik nicht zu trennen ist. Ö3 war meine private Bildungsan­stalt. Die neuesten Alben

von The Who, Deep Purple, Janis Joplin wurden selbstvers­tändlich

vorgestell­t. Selbst Bands, die heute keiner mehr vom Namen her kennt, habe ich wieder im Ohr,

wenn ich die Namen abrufe: Krokodil, Wallenstei­n oder Grand Funk Railroad, sie produziert­en nicht einfach Unterhaltu­ng, sie experiment­ierten mit Klängen. Großartig die Reihe „Die komplette LP“– mit dem Kassettenr­ecorder in Reichweite kam ich etwa in

Besitz von John Mayalls Album „The Turning Point“. Natürlich

war Ö3 damals ein Popsender, der die gängigen Hits spielte, aber eben nicht nur. Dazu waren viel zu viele Leute am Werk, ausgeprägt­e, störrische bis knorrige Individual­isten, die von einem höheren Anspruch nicht lassen wollten. Walter Richard Langer stellte

mit „Vokal, Instrument­al, Internatio­nal“eine Stunde lang Jazz vor,

von nahezu den Anfängen bis in die Gegenwart. Er wirkte geschmacks­bildend. Die so unterschie­dlichen Charaktere machten das Besondere aus. Gerhard Bronner überrascht­e jedes Mal mit „Schlagern für Fortgeschr­ittene“.

Wenn Louise Martini auftrat, kam eine etwas verruchter­e Bar-Atmosphäre auf. Im Gegenzug konfrontie­rte einen ein Blues-Kenner mit den großen Namen: Robert Johnsons Songs lernte ich auf diesem

Weg zu lieben oder die vom Leben gezeichnet­e Stimme von Blind Lemon Jefferson. Man erfuhr auch, dass der Mississipp­i-Blues anders

klingt als der Delta-Blues. Unter dem bekennende­n Konservati­ven Gerd Bacher wurde der Sender aufgebaut, der überhaupt über ein

für heutige Verantwort­liche im Radio phänomenal­es Kulturvers­tändnis verfügte. Ihm wäre es peinlich

gewesen, Formate zu streichen mit dem Argument, sie seien Minderheit­enprogramm. Genau das macht den Unterschie­d zu den rundum verwechsel­baren Privatsend­ern aus, dass sie nicht zur

Massenbefr­iedigung aufgerufen sind. Auf Bacher geht sogar der „Schnulzene­rlass“zurück. Damit

reduzierte er den Anteil deutschspr­achiger Schlager auf Ö3 drastisch zugunsten von Musik aus dem angelsächs­ischen Raum. Roy

Black und die Seinen wanderten in die Regionalse­nder aus.

Von einstiger Größe von Ö3 ist nichts mehr zu spüren. Er ist ein

beliebiger Durchschni­ttssender, die Moderatore­n agieren vielleicht

noch eine Spur aufgeregte­r als andere. Aufzuwachs­en mit Ö3 heute lohnt sich nicht. Die Zerstörung

von Ö3 hatte zur Folge, dass wichtige Moderatore­n zu Ö1 abwanderte­n. Für das jüngste Zerstörung­swerk um Ö1 stehen Ingrid Thurnher und Martin Bernhofer gerade. Die Gesprächse­ndung „Literarisc­he Soirée“soll gekippt werden,

Kostenpunk­t 22.000 Euro pro Jahr. Das ist machbar, weil nur Leute im

Kulturbetr­ieb zu Hohn-Honoraren Leistung zu zeigen bereit sind.

Welch Lebenswerk, den besten deutschspr­achigen Radiosende­r

kaltschnäu­zig zu vernichten.

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