Der Niedergang von Ö3 und das neue Vernichtungswerk
15.05 Uhr, „Die Musicbox“. Ich gab
vor, intensiv mit meinen Schulaufgaben beschäftigt zu sein, in
Wahrheit bekam ich Nachrichten aus einer mir unbekannten, aber
grandios ausgemalten Welt. Im Pinzgau der frühen 1970er-Jahre
wurde Geschichtsunterricht von einem Lehrer erteilt, der mit seiner Nazivergangenheit störend in meine Gegenwart hineinreichte.
Von Unterricht über Geschichte, Politik und Gesellschaft keine Spur, der erfolgte über meinen damaligen Bildungssender Ö3. Die „Musicbox“lieferte regelmäßig Berichte aus einer subkulturellen Szene, dem Unbehagen, das ich in der Enge der Berge verspürte, war ich nicht länger ausgeliefert.
Draußen in den Städten gab es wildere, nicht zum Parieren bereite Lebensmodelle. Den Soundtrack dazu lieferte die Musik.
Nicht die gängigen Hits waren zu
hören, sondern Rock, der es ernst meinte mit der Politik, der vorwiegend aus den USA oder Großbritannien kam. Das war eine frühe Lehre des Radiohörens, dass Kultur von Politik nicht zu trennen ist. Ö3 war meine private Bildungsanstalt. Die neuesten Alben
von The Who, Deep Purple, Janis Joplin wurden selbstverständlich
vorgestellt. Selbst Bands, die heute keiner mehr vom Namen her kennt, habe ich wieder im Ohr,
wenn ich die Namen abrufe: Krokodil, Wallenstein oder Grand Funk Railroad, sie produzierten nicht einfach Unterhaltung, sie experimentierten mit Klängen. Großartig die Reihe „Die komplette LP“– mit dem Kassettenrecorder in Reichweite kam ich etwa in
Besitz von John Mayalls Album „The Turning Point“. Natürlich
war Ö3 damals ein Popsender, der die gängigen Hits spielte, aber eben nicht nur. Dazu waren viel zu viele Leute am Werk, ausgeprägte, störrische bis knorrige Individualisten, die von einem höheren Anspruch nicht lassen wollten. Walter Richard Langer stellte
mit „Vokal, Instrumental, International“eine Stunde lang Jazz vor,
von nahezu den Anfängen bis in die Gegenwart. Er wirkte geschmacksbildend. Die so unterschiedlichen Charaktere machten das Besondere aus. Gerhard Bronner überraschte jedes Mal mit „Schlagern für Fortgeschrittene“.
Wenn Louise Martini auftrat, kam eine etwas verruchtere Bar-Atmosphäre auf. Im Gegenzug konfrontierte einen ein Blues-Kenner mit den großen Namen: Robert Johnsons Songs lernte ich auf diesem
Weg zu lieben oder die vom Leben gezeichnete Stimme von Blind Lemon Jefferson. Man erfuhr auch, dass der Mississippi-Blues anders
klingt als der Delta-Blues. Unter dem bekennenden Konservativen Gerd Bacher wurde der Sender aufgebaut, der überhaupt über ein
für heutige Verantwortliche im Radio phänomenales Kulturverständnis verfügte. Ihm wäre es peinlich
gewesen, Formate zu streichen mit dem Argument, sie seien Minderheitenprogramm. Genau das macht den Unterschied zu den rundum verwechselbaren Privatsendern aus, dass sie nicht zur
Massenbefriedigung aufgerufen sind. Auf Bacher geht sogar der „Schnulzenerlass“zurück. Damit
reduzierte er den Anteil deutschsprachiger Schlager auf Ö3 drastisch zugunsten von Musik aus dem angelsächsischen Raum. Roy
Black und die Seinen wanderten in die Regionalsender aus.
Von einstiger Größe von Ö3 ist nichts mehr zu spüren. Er ist ein
beliebiger Durchschnittssender, die Moderatoren agieren vielleicht
noch eine Spur aufgeregter als andere. Aufzuwachsen mit Ö3 heute lohnt sich nicht. Die Zerstörung
von Ö3 hatte zur Folge, dass wichtige Moderatoren zu Ö1 abwanderten. Für das jüngste Zerstörungswerk um Ö1 stehen Ingrid Thurnher und Martin Bernhofer gerade. Die Gesprächsendung „Literarische Soirée“soll gekippt werden,
Kostenpunkt 22.000 Euro pro Jahr. Das ist machbar, weil nur Leute im
Kulturbetrieb zu Hohn-Honoraren Leistung zu zeigen bereit sind.
Welch Lebenswerk, den besten deutschsprachigen Radiosender
kaltschnäuzig zu vernichten.