Wenn der Regen ausbleibt: „Wir zählen jeden Tropfen“
Kaum Niederschlag, versiegte Quellen, Existenzangst: Die Trockenheit ist 2022 auch dort angekommen, wo man sie nicht vermuten würde. Zum Beispiel im Wienerwald.
WIEN. Der Osten Österreichs wurde 2022 von einer schweren Trockenheit heimgesucht. Vor allem im südlichen Niederösterreich und im Nordburgenland verschwanden Seen und Flüsse, das Grundwasser sank teils um mehrere Meter ab. Doch auch Gegenden, in denen man es nie und nimmer für möglich
halten würde, leiden mittlerweile an massivem Wassermangel.
Zum Beispiel der westliche Wiener Stadtrand. Dort, wo der Wald gerade in allen Farben leuchtet. Die
Wiesen, mit Tau überzogen, strotzen vor Kraft. Die Böden lehmigfeucht. Der staubige Sommer –
längst vergessen. Und mittendrin, am Fuße des Hermannskogels: das Gasthaus zum Agnesbrünnl. Pferde
grasen, dazu ein liebevoll gepflegter Garten, Obstbäume – ein Idyll wie aus dem Bilderbuch. Sollte man meinen.
Sabine März weiß nicht, wie lange sie den Betrieb noch aufrechterhalten kann. Denn sie hat kein Wasser mehr. „Die beiden Quellen, die
uns versorgt haben, sind versiegt.“Sie öffnet die Klappe zur Zisterne. Fassungsvermögen: 16.000 Liter. „Irgendwo da unten ist das Wasser.“Es werden etwa 1500 Liter sein. Im
Vorjahr sei es sich noch knapp ausgegangen mit dem Vorrat. „Heuer nicht mehr.“Drei Tankladungen
Wasser musste sie zukaufen. „Die Rechnung kommt noch.“Es werden wohl 500 Euro sein. Pro Lieferung.
„Es regnet nicht weniger oft als
früher. Aber die Menge hat extrem abgenommen“, hat März beobachtet. Das kann sie sogar belegen. Denn im Gasthaus zum Agnesbrünnl wird seit 1974 täglich der Niederschlag gemessen. Ehrenamtlich, versteht sich. Einmal im Monat
werden die Daten an die Magistratsabteilung 45 abgeliefert.
Dort sagt Thomas KozuhSchneeberger, Leiter der Gruppe Gewässerinformation: „Es gibt rund 800 Grundwassermessstellen in
Wien. Eine generelle extreme Abnahme der Pegel ist zurzeit nicht erkennbar.“Das liege größtenteils an der Donau, die vieles auffange. Wie sich die Situation in den Hügeln im
Westen darstellt, müsse man sich genauer ansehen.
Sabine März beginnt in den Aufzeichnungen zu blättern. Oktober 1974 bis September 1975: 774 Liter
pro Quadratmeter. Darunter Monate mit null Niederschlag und welche mit fast 200 Litern pro m2. Zum Vergleich: 2022 waren es 285 Liter pro m2 – in den ersten sieben Monaten.
Das Gasthaus zum Agnesbrünnl ist ein beliebtes Ausflugsziel. Immer wieder kommen Schulklassen
vorbei. „Denen muss ich sagen: Es tut mir leid, aber ihr könnt eure Trinkflaschen nicht bei uns auffüllen.“2009 hat die Stadt Wien angeboten, das Gasthaus ans Leitungsnetz
anzuschließen. „Wir hatten
kein Interesse. Es war ja viel mehr Wasser da, als wir brauchen konnten“, erinnert sich März.
Wozu also Anschlusskosten von mehr als 5000 Euro bezahlen?
Nun wurde mit der Wünschelrute eine dritte Quelle ausgemacht. Mitte November: Bodenradar. Dann: Bohrung. Doch das wird dauern. Muss man alles erst
bewilligen lassen. Und nachweisen, dass es sich um einwandfreies Trinkwasser handelt. Sabine März sagt: „Wenn das nicht hinhaut, haben wir ein Problem.“
Was bleibt, ist die Hoffnung. „Wir zählen jeden Tropfen.“