Lügen und Verleumdung
Brasiliens Wahlkampf lässt keinen Platz für Inhalte. Dabei wird die Wahl das Land für Jahrzehnte prägen.
BRASÍLIA. Lula oder Bolsonaro? Je näher der Tag der Entscheidung
über den zukünftigen Präsidenten Brasiliens rückt, desto absurder, gewalttätiger, schmutziger und inhaltsleerer wird der Wahlkampf. Vor allem vonseiten des Amtsinhabers Jair Bolsonaro.
Trotzdem werden die Chancen des 67-Jährigen auf Wiederwahl jeden Tag besser. Seit der ersten
Wahlrunde am 2. Oktober verkürzt Bolsonaro den Abstand auf seinen
linken Herausforderer Lula da Silva (77) stetig. Wenige Tage vor der
Wahl am Sonntag hatte der Kandidat der Arbeiterpartei PT fünf Prozentpunkte Vorsprung. Aber die
Umfragen sind unzuverlässig und es gibt Unentschiedene und bisherige Nichtwähler, die zusammen fast 20 Prozent der Wahlberechtigten ausmachen.
Nur eines scheint klar: Es wird ein enges Rennen, und die Entscheidung wird das größte Land
und die wichtigste Wirtschaft Lateinamerikas – und damit die ganze Region – auf Jahre hinaus prägen.
Zur Wahl stehen die tropische Variante des ungarischen Autokraten Viktor Orbán und ein eher sozialdemokratisches Modell. Dabei ist Bolsonaro eher ein noch größerer Demokratieverächter als Orbán. Er
würde alles daransetzen, sein ultrarechtes Konzept auf Jahrzehnte in Brasilien zu verankern. Lula vertritt dagegen ein inklusives, links-liberales Modell, das soziale Verantwortung und einen Ausgleich zwischen Ökonomie und Ökologie anstrebt.
Bolsonaros ersten vier Jahre im Amt waren objektiv gesehen ein Desaster. Er leugnete die Coronapandemie und ist daher mitverantwortlich für 680.000 Tote. Die Wirtschaft ging in die Knie, die Wälder
im Amazonasgebiet wurden im Rekordtempo abgeholzt, die Armut
hat dramatisch zugenommen, die Qualität der öffentlichen Bildung
und des Gesundheitssystems hat sich verschlechtert.
Warum also hat er dennoch Chancen, im Amt bleiben zu dürfen?
Zum einen liegt das an dem inhaltsleeren Wahlkampf. Es wird so gut wie nicht über die dringlichen Themen gesprochen, etwa die Zunahme von Armen und Hungernden, den strukturellen Rassismus, die galoppierende Vernichtung des Regenwalds, die gesellschaftliche und wirtschaftliche Ungleichheit.
Das wiederum liegt daran, dass es vor allem Bolsonaro beinahe nur darum geht, den Kontrahenten zu diffamieren und zu verleumden.
Über die sozialen Netzwerke mobilisiert er seine radikalsten Anhänger, und seine Flakhelfer feuern ohne Unterlass Nachrichten und
Videos ab, in denen Lula als Antichrist, Satan, Kinderschänder und
Drogenbaron dargestellt wird. Bolsonaro behauptet sogar, Lula wolle
die evangelikalen Kirchen schließen und die traditionelle Familie zerstören. Keine Behauptung und Lüge scheint absurd genug, um sie nicht dem Gegner anzuhängen.
Brasilien erlebe den schmutzigsten Wahlkampf seiner Geschichte,
urteilt Guilherme Casarões vom
Thinktank Fundação Getúlio Vargas. Angesichts einer derartigen Polarisierung zwischen Lula und Bolsonaro sei es unmöglich, über Ideen zu reden. Und Lula selbst fällt auch kaum mehr ein, als die schöne
Vergangenheit zu beschwören, als er zwischen 2003 und 2011 regierte. Acht Jahre, in denen es Brasilien besser ging als jetzt.
Dem ultrarechten Amtsinhaber spielt auch in die Karten, dass sich
die Wirtschaft vor allem dank eines staatlichen Entlastungspakets langsam erholt. Dadurch wurden Steuern auf Treibstoff, Strom, Gas, Telekommunikation und den öffentlichen Nahverkehr gesenkt. In der Folge ebbte die Inflation ab, der Benzinpreis stabilisierte sich. Aber
vor allem hat Bolsonaro Staatsgelder in Millionenhöhe dafür genutzt, die Sonder- und Hilfszahlungen im Rahmen des Programms „Auxílio Brasil“(„Hilfe für Brasilien“) zu erhöhen und auszubauen. In diesem Rahmen erhalten bedürftige Familien monatlich rund 115 Euro Hilfe.
Rund 25 Prozent der Brasilianerinnen und Brasilianer erhalten inzwischen direkt oder über ein Mitglied des Familienhaushalts die
Hilfsgelder. Und zielsicher hat die Regierung die Zahlung noch schnell
Brasiliens schmutzigster Wahlkampf bisher
so vorgezogen, dass die Bedürftigen das Geld vor dem zweiten Wahlgang bekommen. Damit sucht Bolsonaro genau in der Schicht Stimmen, die gewöhnlich Lula da Silva wählen würden.
Jenseits dieses Panoramas lohnt ein Blick auf die politische Großwetterlage, auch wenn dem Amtsinhaber am Sonntag die Wiederwahl verwehrt bliebe. Bolsonaros Gefolgsleute und Verbündete haben Anfang des Monats bei den Gouverneurs- und Parlamentswahlen große und unerwartete Erfolge erzielt. So ist schon jetzt klar: Der „Bolsonarismus“bleibt. Er ist längst
eine feste Größe in der brasilianischen Politik und kein „Betriebsunfall“, wie Lula ihn im Wahlkampf noch darstellen wollte.
Das liegt auch daran, dass ein großer Teil der Bevölkerung die antidemokratischen, promilitärischen, rassistischen, frauenfeindlichen und gewaltverherrlichenden
Werte mitträgt und sich von ihnen angesprochen fühlt. Ein gemäßigt
konservatives Gegengewicht gibt es nicht mehr. Die bürgerliche Rechte ist faktisch aufgerieben.
Die Spaltung Brasiliens, das ist schon jetzt klar, bleibt über die
Wahl hinaus bestehen.