Untergehen in einem Meer aus Behauptungen
Über ein Buch, das wirklich gut ist, weil es zeigt, wie wir unseren Beitrag leisten, dass die Wirklichkeit verschwindet.
Als ich neulich von einem Buch zu schwärmen
begann, hielt sich die Begeisterung in Grenzen, nachdem ich bloß den Titel des Buches erwähnt hatte. Das Buch heißt „Alternative Fakten“. Bei dem Titel versteht man, dass halbwegs intelligente, nachdenkliche Menschen von dem Thema angefressen sind. Wir werden ja im Übermaß gefüttert von diesen Alternativen zur Wirklichkeit. Zu jedem Thema türmen die Verschleierer einen Haufen Behauptungen auf. Die Wortdreher und Sprachgrapscher haben’s wegen der Globalisierung jedes Schwachsinns leichter als je zuvor. Ein Klick und ungefiltert und direkt wird ausgespieben, was sich als Beitrag zum Diskurs aufführt und bloß verbale Ausscheidungen sind. Meinungsdurchfall, Betroffenheitskotze, Kommentarfieber sind die Seuchen der Gegenwart. Kaum fällt jemandem
was ein, wird es in die Welt geschossen. Und die Welt kommentiert zurück. So wird Schicht
für Schicht die Wirklichkeit abgegraben und statt einer gemeinsamen Wirklichkeit entstehen
Blasen der Verschwörung. In etwa darum geht es in dem Buch des Soziologen Nils C. Kumkar. Ich empfehle dieses Buch. So eine Empfehlung halten heute manche ja auch schon für einen Irrsinn. Lieber den Mund halten als klar Haltung einnehmen ist das Lebensmotto der Durchschlängler. So funktioniert dann jene Autorität, die in die Diktatur führt.
Also eine klare Ansage: Kumkars Buch ist eine wirklich schöne Aufklärung in dunklen Zeiten einer hitzig werkenden Verdummungsindustrie. Kumkar nämlich erklärt schlüssig, dass es im politischen Überleben eben gar nicht darum geht, eine Aussage darüber zu treffen, wie oder was die Wirklichkeit ist. Stattdessen werden dank technischer Möglichkeit rasend schnell so viele Wirklichkeiten geschaffen,
dass wir jeden Überblick verlieren. Und es stimmt ja auch, jeder hat seine eigene. Wenn
vier Leute von einem Restaurantbesuch reden, erzählen sie ihre Wahrheiten über Atomsphäre, Geschmack, Serviceleistung. Das macht die
Geschichte erzählenswert. Aber fest steht: Alle
vier waren im selben Restaurant. Und es sind – sagen wir einmal – die gleichen Menschenrechte, auf deren Basis die Gemeinschaft auskommen muss. Es ist – sagen wir einmal – dasselbe Klima, unter dem gelitten wird. Wer solche Wirklichkeit bestreitet, muss dafür gar
nicht lügen. Es reicht vielmehr, durch alternatives Wortgeballere eine Atmosphäre zu erzeugen, in der sich keine Realität bildet, sondern ein Gefühl einschleicht: Alles, was wer anderer
– oder gar „die anderen“– sagt, ist dann auch nur eine Behauptung. So reden wir schön am Kern der Sache vorbei und uns an den Abgrund. Die Wirklichkeit wird Schicht für Schicht desavouiert. Diskutiert werden dann die alternativen Fakten, während die Wirklichkeit untergeht. Und weil Nils C. Kumkar, das so einleuchtend und unaufgeregt erklärt, hat er ein wirklich hervorragendes Buch geschrieben.