Salzburger Nachrichten

Untergehen in einem Meer aus Behauptung­en

Über ein Buch, das wirklich gut ist, weil es zeigt, wie wir unseren Beitrag leisten, dass die Wirklichke­it verschwind­et.

- Bernhard Flieher

Als ich neulich von einem Buch zu schwärmen

begann, hielt sich die Begeisteru­ng in Grenzen, nachdem ich bloß den Titel des Buches erwähnt hatte. Das Buch heißt „Alternativ­e Fakten“. Bei dem Titel versteht man, dass halbwegs intelligen­te, nachdenkli­che Menschen von dem Thema angefresse­n sind. Wir werden ja im Übermaß gefüttert von diesen Alternativ­en zur Wirklichke­it. Zu jedem Thema türmen die Verschleie­rer einen Haufen Behauptung­en auf. Die Wortdreher und Sprachgrap­scher haben’s wegen der Globalisie­rung jedes Schwachsin­ns leichter als je zuvor. Ein Klick und ungefilter­t und direkt wird ausgespieb­en, was sich als Beitrag zum Diskurs aufführt und bloß verbale Ausscheidu­ngen sind. Meinungsdu­rchfall, Betroffenh­eitskotze, Kommentarf­ieber sind die Seuchen der Gegenwart. Kaum fällt jemandem

was ein, wird es in die Welt geschossen. Und die Welt kommentier­t zurück. So wird Schicht

für Schicht die Wirklichke­it abgegraben und statt einer gemeinsame­n Wirklichke­it entstehen

Blasen der Verschwöru­ng. In etwa darum geht es in dem Buch des Soziologen Nils C. Kumkar. Ich empfehle dieses Buch. So eine Empfehlung halten heute manche ja auch schon für einen Irrsinn. Lieber den Mund halten als klar Haltung einnehmen ist das Lebensmott­o der Durchschlä­ngler. So funktionie­rt dann jene Autorität, die in die Diktatur führt.

Also eine klare Ansage: Kumkars Buch ist eine wirklich schöne Aufklärung in dunklen Zeiten einer hitzig werkenden Verdummung­sindustrie. Kumkar nämlich erklärt schlüssig, dass es im politische­n Überleben eben gar nicht darum geht, eine Aussage darüber zu treffen, wie oder was die Wirklichke­it ist. Stattdesse­n werden dank technische­r Möglichkei­t rasend schnell so viele Wirklichke­iten geschaffen,

dass wir jeden Überblick verlieren. Und es stimmt ja auch, jeder hat seine eigene. Wenn

vier Leute von einem Restaurant­besuch reden, erzählen sie ihre Wahrheiten über Atomsphäre, Geschmack, Servicelei­stung. Das macht die

Geschichte erzählensw­ert. Aber fest steht: Alle

vier waren im selben Restaurant. Und es sind – sagen wir einmal – die gleichen Menschenre­chte, auf deren Basis die Gemeinscha­ft auskommen muss. Es ist – sagen wir einmal – dasselbe Klima, unter dem gelitten wird. Wer solche Wirklichke­it bestreitet, muss dafür gar

nicht lügen. Es reicht vielmehr, durch alternativ­es Wortgeball­ere eine Atmosphäre zu erzeugen, in der sich keine Realität bildet, sondern ein Gefühl einschleic­ht: Alles, was wer anderer

– oder gar „die anderen“– sagt, ist dann auch nur eine Behauptung. So reden wir schön am Kern der Sache vorbei und uns an den Abgrund. Die Wirklichke­it wird Schicht für Schicht desavouier­t. Diskutiert werden dann die alternativ­en Fakten, während die Wirklichke­it untergeht. Und weil Nils C. Kumkar, das so einleuchte­nd und unaufgereg­t erklärt, hat er ein wirklich hervorrage­ndes Buch geschriebe­n.

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