Die Oma auf der Couch, der Opa auf dem Bild
Die Erni sitzt auf der Couch. Ihren Mann hat sie vor vielen Jahren verloren. Sein Bild ist noch da. Und die Liebe, die ist wie am ersten Tag.
OFFENHAUSEN. Wie immer sitzt die Erni auf der Couch im Wohnzimmer, die Hände vor dem Bauch verschränkt, so schaut sie fern. Man
kann sie dort eigentlich immer antreffen, sobald sie ihr Frühstück auf der kleinen Bank in der Küche eingenommen hat und bevor sie, wenn der Abendfilm vorbei ist, langsam mit ihrem Rollator zurück in ihr kleines Schlafzimmer zuckelt.
Fernsehen, das ist das, was Erni so macht. Manchmal läuft ein katholischer Sender, Volksmusik oder Schlager, Dokumentationen, wo es
um das Brauchtum und das Leben am Land geht, um alte Bräuche und um das Früher.
Die Altbäuerin aus dem Hausruck wird in aller Regel von sich
selbst aus niemanden ansprechen, der in das Wohnzimmer kommt.
Wer sich aber zu ihr setzt, der kann sehr wohl in ein Gespräch mit Erni hineinfinden.
„Man muss zufrieden sein“, das ist dann das Erste, was sie sagt. Weil das Erste, was sie gefragt worden ist,
ja meistens etwas war in der Art von „Wie geht es dir heute?“. Ihr Herz ist recht schwach, oft hat sie schon das
Wasser in den Beinen, mit der Luft geht es mehr schlecht als recht und die Knie, die sind längst kaputt. „Wir haben ja doch so schwer arbeiten müssen am Hof“, wird die Offenhausener Oma, wie man sie nennt, in aller Regel nachsetzen. Und dann, ganz sicher: „Und mein Mann, der ist ja doch so gach gestorben.“
Ihr Mann, der Bauer, ist schon lange nicht mehr. Fast ein halbes Leben ist vergangen, seit er im Spital gestorben ist. Warum und wie
genau, das weiß die Witwe nicht mehr, es ist für sie ein Rätsel, eine himmelschreiende Ungerechtigkeit, ein Fehler im System des Universums, der nie wieder ausgebügelt worden ist. „Und dann hab ich ja doch so lange allein sein müssen.“
Gewiss, so ganz allein war sie nicht. Es gab die Kinder und Enkel, die noch viele Jahre mit ihr auf dem Hof wohnten, ganz viele Familienfeiern und Freunde und Bekannte
und Menschen rund um sie herum. „Aber mein Mann“, sagt sie, „der war einfach nicht mehr.“
Wir wissen gar nicht mehr so viel über den Bauern, über diesen Mann. Ein Bild,
das steht immer in der Nähe von der Erni. Ein kantiges, glatt rasiertes Gesicht, das ernst in die Kamera schaut, so wie man es damals halt gemacht hat. Aber es
muss schon eine ganz besondere Beziehung gewesen sein, die die
beiden gehabt haben. Ihr Leben war sicher nicht leicht, der Hof war nicht groß, es war keine Agrarfabrik, die nur gemanagt werden musste. Auch die Jüngeren in der Familie
waren eingeteilt, sie berichten teils noch mit einem Rest an Bitternis über die Rackerei am Hof.
Die Oma, die heute auf der Couch im Wohnzimmer sitzt, kann über diese Liebe nicht mehr so gut reden,
wie sie vielleicht gerne möchte, ihr fehlen dazu die Worte, und sicher auch schon die Präzision der Erinnerung.
Das Einzige, was man machen kann, ist, einmal durch den mittlerweile halb verfallenen Bauernhof zu streunen, den die Erni seit Jahren nicht mehr bewohnen kann – wegen ihrer Knie, Sie wissen schon.
Das Wohnhaus, eigentlich die ganze Anlage, wirkt so, als wäre es fast fluchtartig verlassen worden. Oder von jemandem, der annahm, er würde nach ein paar Wochen wieder zurückkehren.
Aber das ist natürlich nie passiert. Die alte Küche blieb für immer leer, der Spieß für die Grillhendln hat sich nie wieder gedreht, der Opa sich nie wieder mit einem Bier zum
Küchentisch gesetzt, wenn es zum Essen war, natürlich genau um zwölf. Jetzt stehen die rostigen Maschinen in der Tenne, die Sensen
und Rechen. Sogar den alten Schlachtschussapparat haben wir
noch gefunden. Vor allem aber die alte Stube: Da warten blumig und
golden bemalte Tassen in den Schränken, die Teller, die Tischdecken wahrscheinlich darauf, dass die Oma in fünf Minuten kommt, den Tisch deckt und dem „Vater“schreit, dass der Kaffee fertig ist und der Marillenfleck.
Das Letzte, was der schon Schwerkranke noch gemacht hat, das war das Schnapsbrennen. Und auch die gut gefüllten Plutzer stehen noch in dieser Stube. Und so ist es eine Tradition geworden, dass
wir zu Weihnachten immer eine Flasche von dem Obstler bekommen haben. Wir konnten dann anstoßen. Und da war der alte Bauer, den es schon ein halbes Oma-Leben lang nicht mehr gab, wieder ein
bisschen in unserer Nähe.