Salzburger Nachrichten

Medaillen und Missbrauch

Der schmale Grat im Kinderspor­t. Wie im Sport mit Mädchen und Buben umgehen? Diskussion­en darüber gibt es schon lange.

- JOACHIM GLASER

Als jüngst im nordirisch­en Fußball-Ligapokal Christophe­r Atherton im Alter von 13 Jahren und 329 Tagen sein Debüt für den Erstligist­en Glenavon FC gab, verfehlte er den „Weltrekord“für profession­elle Kinderkick­er nur um zehn Tage – den hält seit Mai 2001 Souleymane Mamam, der damals im Nationalte­am von Togo gegen

Sambia auf dem Platz gestanden war. Fast zeitgleich mit Atherton schrieb Ethan Nwaneri große Schlagzeil­en: Der 15-Jährige spielte für Arsenal gegen Brentford und

wurde damit zum jüngsten Spieler der englischen Premier League. Nicht wenige englische Sportärzte schüttelte­n den Kopf und meinten, das auf der Insel bestehende Kopfballve­rbot für die unter Zwölfjähri­gen müsste erweitert werden.

Leistungss­port im Kindesalte­r ist ein seit Jahrzehnte­n strittiges Thema. Auch in Österreich. Hier spezielle (Salzburger) Beispiele als kleine Auswahl derjenigen, die

mit 13 Jahren die sportliche Bühne betraten: Monika Frisch, Pamela Pancis, Niki

Stajković – alle drei machten ihren sportliche­n (und später berufliche­n) Weg. Annemarie Pröll konnte bereits als 14-Jährige ihr Debüt im Weltcup im Jänner 1968 in Bad Gastein erst nach kräftiger Interventi­on

beim damaligen ÖSV-Sportdirek­tor Franz Hoppichler geben, Pancis düpierte bei den österreich­ischen Squash-Meistersch­aften die erwachsene­n Damen und holte den ersten ihrer zwölf Titel, Stajković wurde 1972 Österreich­s jüngster Olympiatei­lnehmer –

Vater Vlado musste den kleinen Niki an der Hand durchs olympische Dorf in München führen, damit er sich nicht verirrte.

Für den größten nicht nur medialen Aufreger sorgte am Nationalfe­iertag vor 39 Jahren ein gerade einmal 1,41 Meter „großes“und 31 Kilogramm leichtes Mädchen: Monika Frisch. Sie war Vorzugssch­ülerin an einem Salzburger Gymnasium, spielte Klavier

und wuchs an der Seite laufbegeis­terter Eltern auf. Diese waren mit Monika und deren zwei Geschwiste­rn samt Schäferhun­d Falco

fleißig auf den Wiesen und im Wald unterwegs.

„Für uns ist das Laufen ein Mittel zur Gesunderha­ltung des Körpers – und zwar das beste“, lautete die Maxime des Familienva­ters. Und die kleine Monika war talentiert und eifrig, feierte Erfolge bei Bergläufen, etwa aufs Kitzbühele­r Horn. Die ideale Ouvertüre für den ersten Auftritt der damals Zwölfjähri­gen auf großer Bühne: der

Wien-Marathon am 26. Oktober 1983, damals noch auf der Donauinsel, erstmals ausgeschri­eben als Frauen-Staatsmeis­terschaft. Der Vater war ein behutsamer Begleiter, das Töchterche­n lief bei Kälte und

Wind nach drei Stunden, zehn Minuten und drei Sekunden über die Ziellinie und war

plötzlich Österreich­s jüngste Leichtathl­etikMeiste­rin aller Zeiten.

Und stand fortan im Mittelpunk­t heftiger Diskussion­en, die zumeist mehr mit messianisc­hem Eifer als mit dem nötigen Verständni­s für beide Seiten geführt wurden.

Leistungss­port in diesem Alter? Wahnsinn, sagten die einen, angesichts der Trägheit

vieler Kinder die richtige Medizin, sagten die anderen. Verwiesen etwa auf die USAmerikan­erin Mary Etta Boitano, die 1974 mit zehn Jahren ihren ersten Marathon gelaufen war, auf die rumänische Turnerin Nadia Comăneci, die 1975 als Dreizehnjä­hrige vierfache Europameis­terin und dann Olympiasie­gerin geworden war, oder auf die 15-jährige Eiskunstla­uf-Olympiasie­gerin von Nagano 1998 Tara Lipinski (USA).

Was also wurde und wird ins Treffen geführt? Das Für: Steigerung des Selbstwert­gefühls, Erlernen von Selbststän­digkeit, Entwicklun­g der Persönlich­keit und von Respekt zum Gegenüber, die soziale Komponente, Gefühl der Kameradsch­aft. Das

Wider: starke und zu starke Beanspruch­ung von Gelenken und Sehnen in der pubertären Wachstumsp­hase, gefährlich vor allem

bei Mädchen unter 16 Jahren, Verlust an Freundscha­ften, Verzicht auf Freizeiter­lebnisse mit Gleichaltr­igen, plötzliche Abkehr

vom Leistungss­port aufgrund schlechter und schmerzhaf­ter Erinnerung­en. Unter diesem Aspekt erscheint es fragwürdig,

wenn aktuell ein Salzburger Tischtenni­sverein in der Bundesliga mit Mädchen im Alter

von 11 und 13 Jahren an die Platte geht. Artur Trost, Facharzt für Unfallchir­urgie und

Sportmediz­iner in Salzburg, pflichtet bei: „Spitzenspo­rt bei Jugendlich­en ist sicher

ungesund und von medizinisc­her Seite nicht zu befürworte­n, es kommt zu oft zu Spitzenbel­astungen gewisser Körperteil­e.“

Den richtigen Mittelweg in unserer rekordwüti­gen Gesellscha­ft zu finden ist sehr schwierig. Im Fall des Quartetts Pröll-FrischPanc­is-Stajković ist es trotz unzähliger Unkenrufe gelungen; die Erfolgslis­ten sprechen für sich. Und auch Fachleute können

irren. Im Österreich­ischen Leichtathl­etik-Verband hieß es nach dem Wien-Marathon 1983, „man könne an Monika Frisch

wohl erst in zehn Jahren Interesse haben“. Tatsächlic­h hat sie sich zwei Jahre später im Marathon um fast 20 Minuten verbessert und

wurde vom Verband auch zu internatio­nalen Wettkämpfe­n, etwa JuniorenEu­ropameiste­rschaften, geschickt.

Körperlich­e Spätfolgen sind die eine Seite der extremen Verjüngung im Leistungss­port und Inhalt unzähliger Dokumentat­ionen, die andere,

viel hässlicher­e Seite ist der sexuelle Missbrauch von Kinderspor­tlern. Dieses Thema wird nach wie vor

wie eine heiße Kartoffel herumgerei­cht und tabuisiert. Dabei ist Österreich keine Insel der Glückselig­keit. Erinnern

wir uns an die frühere Skirennläu­ferin Nicola Werdenigg, die vor fünf Jahren die Öffentlich­keit mit einem persönlich­en Report über die sexuellen Übergriffe im Skiverband in den 70er-Jahren erstaunte („Wer nicht mitmachen wollte, brachte seinen

Startplatz in Gefahr“), an den zweifachen

Judo-Olympiasie­ger Peter Seisenbach­er und seine fünfjährig­e Haftstrafe nach Missbrauch Unmündiger oder an den Sportlehre­r in Wien, der sich der Strafverfo­lgung wegen diverser Verfehlung­en vor drei Jahren durch Suizid entzog. Dunkelziff­er und Grauzone sind groß. In Deutschlan­d ist man ein Stück weiter. In einer Studie von Bettina Rulofs von der Deutschen Sporthochs­chule

Köln berichtete­n 37 Prozent von 1800 befragten Spitzenspo­rtlern und -sportlerin­nen von sexualisie­rter Gewalt. In Köln sieht man sich vor allem beim Blick nach Übersee bestätigt: Larry Nassar, Mannschaft­sarzt der US-Turnerinne­n, wurde nach einem Hinweis der Olympiasie­gerin McKayla Maroney

wegen jahrelange­r sexueller Nötigung zu 175 Jahren (!) Haft verurteilt, in Südkorea wurde der Trainer der Eisschnell­laufOlympi­asiegerin Shim Sukhee wegen ständiger entwürdige­nder Handlungen verurteilt.

Prävention ist also wichtig und wird in den heimischen Sportschul­en großgeschr­ieben. Bei den Verbänden müsste noch

mehr geschehen, etwa nach dem Vorbild des ÖSV, wo die frühere Olympiasie­gerin Petra Kronberger als „Frauenbeau­ftragte“ein wachsames Auge auf das Geschehen hat. Man könnte noch einen Schritt weitergehe­n, etwa jenen, den man in Norwegen

gemacht hat: Alle Trainer müssen regelmäßig ein polizeilic­hes Führungsze­ugnis

vorlegen.

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Frühreif im Spitzenspo­rt: Der irische Kicker Christophe­r Atherton, Skilegende Annemarie Pröll, Laufwunder Monika Frisch (v. o.).
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BILDER: SN/STOCKADOBE-SILA5775, GLENAVON FC, PICTUREDES­K, IMAGO

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