„Der Krieg macht alle schuldig“
Macht sich verteidigen ebenso schuldig wie sich nicht verteidigen? Was der evangelische Bischof dazu sagt und warum es in ganz Österreich keine Superintendentin gibt.
Ein SN-Gespräch mit dem Bischof der Evangelischen Kirche A.B. in Österreich, Michael Chalupka, anlässlich des Reformationstags am 31. Oktober 2022.
Die evangelische Kirche steht im „Jahr der Schöpfung“. Gilt es da nicht zuallererst den Satz der Bibel aufzuarbeiten: Macht euch die Erde untertan?
SN:
Michael Chalupka: Dieser Satz war so lange sinnvoll, wie Menschen unmittelbar den Naturgewalten ausgeliefert waren und ihr
Überleben sichern mussten. Aber seit der Industrialisierung haben wir tatsächlich die
verhängnisvolle Macht, uns die Erde untertan zu machen. Daher müssen wir auch bedenken, was das Christentum dazu beigetragen hat, dass der Mensch eine zerstörerische Naturgewalt geworden ist.
In der Bibel sagt Gott über seine Schöpfung, dass alles gut war. Woher kommen dann all die Katastrophen, vom Tsunami bis zum Krieg?
SN:
Die Schöpfungsgeschichten der Bibel beschreiben, wohin der Mensch streben soll,
wie die Welt auch anders sein könnte. Der Reformationstag sagt uns unter anderem, dass der Mensch fähig ist zur Umkehr. Christlicher Glaube widerstrebt jedem Fatalismus. Menschen können Verantwortung übernehmen und sich radikal ändern.
Wie geht es Gott, wenn er beim Krieg in der Ukraine zuschaut?
SN:
Als Reaktion auf den Zweiten Weltkrieg wurde 1947 der Ökumenische Rat der Kirchen gegründet. Einer der zentralen Sätze 1948 in Amsterdam war, Krieg soll um Gottes willen nicht sein. Dieses „um Gottes willen nicht“heißt, niemand kann und darf sich für einen Krieg auf Gott berufen. Das entbindet uns aber nicht von dem Dilemma, dass Menschen, die angegriffen werden und sich verteidigen müssen, auch zu militärischen Mitteln greifen dürfen. Aber immer
in dem Bewusstsein, dass man auch dann schuldig wird, wenn man sich bewaffnet
verteidigt. Es gibt keinen gerechten Krieg, aus dem man ohne Schuld herauskommt.
Es gibt Situationen, da kann man sich nur entscheiden zwischen dem Schlechten und dem noch Schlechteren.
Der evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer dachte daran, sich selbst am Attentat gegen Hitler zu beteiligen. Er sagte, der Mensch müsse in die Schuldfähigkeit eintreten, weil man so oder so schuldig werde, durch Tun wie durch Unterlassen. Krieg
macht schuldig, aber Leben nicht zu verteidigen macht genauso schuldig.
Warum steht der Mensch unausweichlich in diesem Dilemma?
SN:
Auf die Frage, warum lässt Gott das zu, muss man die Menschen fragen: Warum
lasst ihr das zu? Wenn Gott im Krieg zu finden ist, dann aufseiten derer, die sterben,
leiden, nie auf der Seite der Helden.
SN:
Einem absoluten Pazifismus würden Sie nicht das Wort reden?
Es gibt den Satz der Friedensbewegung, Frieden schaffen ohne Waffen. Dieser Satz
ist falsch, wenn ich jetzt den Menschen in der Ukraine sagen würde, ihr sollt Frieden schaffen ohne Waffen. Man kann Menschen
nicht an den Kopf werfen, nehmt alles hin, ihr dürft euch nicht verteidigen.
Der Satz ist aber richtig, wenn ich überlege, was die Politik in den vergangenen 20 Jahren durch die Abhängigkeit von russischem Gas oder dadurch, dass sie die Unterdrückung der Opposition in Russland zugelassen hat, an Friedensarbeit versäumt
hat. Da hätte es sehr viele Möglichkeiten gegeben, mehr Frieden zu schaffen ohne Waffen. Frieden schaffen ja, in der Zeit, in der es möglich ist. Frieden wird nicht durch Krieg erzeugt, sondern durch stetes Bemühen, im Dialog zu sein und Bedingungen zu schaffen, die Krieg nicht begünstigen.
Was können die christlichen Kirchen tun? Warum gibt es kaum sichtbare Zeichen wie einen großen Schweigemarsch für den Frieden?
SN:
Die christlichen Kirchen leisten Solidarität durch mannigfache Hilfe in der Ukraine
und für ukrainische Flüchtlinge bei uns. In solchen Krisensituationen bewährt sich das internationale Netzwerk christlicher Organisationen, die über die jeweiligen nationalen Grenzen hinausgehen. Wer hat in Österreich Menschen in der Ukraine gekannt oder hat dort Ansprechpartner? Für die Kirchen war das selbstverständlich. Das hat
uns erlaubt, schnell zu helfen.
SN: Eine Folge bei uns sind Angst und Depression. Warum suchen die Menschen in dieser Situation kaum Zuflucht in den Kirchen?
Die Kirchen haben nicht mehr den Alleinvertretungsanspruch für psychische Krisen, für seelische Nöte. Wir können uns die frühere Allpräsenz der Kirchen nicht nostalgisch zurückwünschen. Wir müssen für die da sein, die Hilfe suchen, und wir müssen die Menschen auch aufsuchen. Das war in der Coronazeit ganz wichtig, dass kirchliche Gemeinschaften aufeinander geschaut haben, dass alle angerufen wurden und Hoffnung angeboten wurde, die über eine momentane existenzielle Krise hinausweist.
SN: Damit sind wir direkt bei den evangelischen Kirchen und ihren Gemeinden. Warum gibt es derzeit keine einzige Superintendentin?
Wir haben rechtlich die volle Gleichstellung der Frauen. Wir haben bei den Pfarrerinnen
knapp 40 Prozent Frauen und im Oberkirchenrat mehr als ein Drittel Frauen. Aber
wir haben derzeit keine Superintendentin. Dadurch entsteht ein öffentliches Bild, das
unserem eigenen Anspruch der vollen Gleichberechtigung auch in geistlichen Ämtern nicht gerecht wird. Die große Herausforderung ist: Wir möchten bei allen Wahlen diese Gleichstellung repräsentieren, wir sind aber andererseits sehr stolz darauf,
dass wir eine durch und durch demokratische Kirche sind.
SN:
Es gibt solche Überlegungen, aber es gibt
keinen Beschluss dazu. Wir müssen mehr überlegen, was Frauen daran hindert, sich der Wahl zu stellen.
Könnte man nicht sagen, dass eine Diözese ohne mindestens ein Drittel Frauen im Wahlvorschlag nicht wählen darf? Vielleicht würde man sich dann mehr um frauengerechte Rahmenbedingungen bemühen.
SN:
Ist eine Frauenquote ein Thema?
Auch solche Vorschläge gab es schon. Sie wurden noch nicht umgesetzt. Dieser Zustand hat auch in den evangelischen Kirchen in Deutschland lange angehalten. Erst
in den vergangenen Jahren wurden einige Bischöfinnen gewählt. Das spornt uns an.
SN: Konservative Kreise in der katholischen Kirche sagen häufig, in den evangelischen Kirchen gibt es Pfarrerinnen, es gibt demokratische Mitbestimmung, und trotzdem sind die Austrittszahlen gleich hoch.
Für uns geht es bei der Gleichberechtigung
von Mann und Frau und der demokratischen Mitwirkung um unser Selbstverständnis, nicht um die Austrittszahlen.
Aber wir stehen wie alle Kirchen vor der Herausforderung, dass man nicht mehr in eine Kirche hineingeboren wird, sondern dass man sich bewusst dafür entscheiden
muss. Hoffnung macht, dass die Menschen, die in der Kirche bleiben, das sehr bewusst
und entschieden tun. Sie sagen, uns ist eine Kirche mit diesem Profil etwas wert, dafür
leisten wir auch unseren Kirchenbeitrag.
Michael Chalupka war langjähriger Direktor
der Diakonie Österreich und wurde am 4. Mai 2019 in Wien von den Delegierten der gesamtösterreichischen Synode mit der notwendigen
Zweidrittelmehrheit zum Bischof gewählt.
Das Wort „Halloween“ist eine Abkürzung. Nämlich
von „All Hallows’ Eve“. Das bedeutet auf Deutsch „Abend vor Allerheiligen“. Denn: Diesen Gedenktag für die Heiligen der Kirche, also Allerheiligen, feiert ja die christliche Kirche am 1. November, dem Tag nach Halloween.