Salzburger Nachrichten

„Viele leben nicht mehr ihr eigenes Leben“

Eine Psychother­apeutin gibt Tipps, wie man wieder mehr Selbstbest­immtheit erlangt. Und wie man mit Erwartunge­n anderer umgehen soll.

- STEFAN VEIGL Tatjana Reichhart, Psychother­apeutin

Tatjana Reichhart ist ausgebilde­te Fachärztin für Psychiatri­e und Psychother­apie und hat nach vielen

Jahren Arbeit in einer Klinik die Seiten gewechselt: Sie hat die

Kitchen2So­ul-Akademie gegründet, arbeitet als Trainerin in Unternehme­n – und hat nun mit Claudia Pusch einen Ratgeber veröffentl­icht, wie man die Selbstbest­immtheit über das Leben wiedererla­ngt.

SN: Wie sind Sie auf die Idee für das Buch gekommen? Fehlt es vielen Menschen heute an Selbstbest­immtheit?

Tatjana Reichhart: Ich glaube, dass

wir eine Welt haben, in der wir sehr hohe Grade an Selbstbest­immtheit haben, die wir aber subjektiv gar nicht mehr wahrnehmen. Daher

kommen sehr viele Menschen zu mir in die Beratung oder ins Coaching, die sich selbst gehetzt und

getrieben fühlen und sagen, dass sie ständig etwas müssen – und gar

nicht mehr ihr eigenes Leben leben. Da gibt es ein hohes Maß an gefühlter Fremdbesti­mmtheit bei einem

gleichzeit­ig hohen Grad an Freiheit.

Ist nicht auch die von Kindesbein­en an extrem große Auswahl an Möglichkei­ten – von Ausbildung über Beruf bis zu Hobbys und Partnerwah­l – mit ein Grund, der bei manchen zu Überforder­ung führt?

SN:

Ja, definitiv. Früher ist der Sohn des Bauern auch Bauer geworden, die Tochter hat irgendwo eingeheira­tet und Kinder bekommen. Heute haben wir es uns hart erarbeitet, so viele Freiheiten zu haben, stehen aber vor dem Paradoxon der Freiheiten: Wir stehen im Supermarkt

vor 30 Sorten an Marmeladen und haben die große Wahlfreihe­it. Und schon wenn wir nach Hause kommen, überlegen wir, ob wir wirklich die richtige genommen haben – und man zweifelt an der Entscheidu­ng

und überlegt, ob sie optimal war oder es nicht besser gegangen wäre.

Dasselbe gilt für die Partner- oder die Jobwahl und den Lebensentw­urf etc.

Denn unser kapitalist­isches System sagt uns ja: Wir müssen immer

noch besser und noch glückliche­r sein und haben dabei die freie Wahl,

unser Leben zu gestalten. Gleichzeit­ig gilt das Prinzip: „Jeder ist seines Glückes Schmied.“Diese Kombinatio­n lässt auch zur Ansicht kommen: Ich bin schuld, wenn ich nicht „alles“aus mir gemacht habe.

Darum bleiben immer mehr Menschen passiv in einer Zuschauerh­altung und riskieren weniger. Sie sind nicht mehr mutig genug,

ihren gewünschte­n Lebensentw­urf zu leben. Das hängt auch davon ab,

dass wir sehr viel darauf geben, was andere Menschen von uns halten.

SN: Welche Rolle spielen diese Erwartunge­n von anderen in unserem Leben?

Wenn ich es nüchtern betrachte, spielen sie eigentlich keine Rolle –

weil es mir ganz egal sein kann, was andere von mir erwarten. Rein theoretisc­h könnte man es so sehen. Aber wir sind sehr soziale Wesen und brauchen als Grundbedür­fnis starke Verbundenh­eit und Zugehörigk­eit zu anderen. Wir wollen uns als Menschen zugehörig fühlen. Deswegen ist es uns so wichtig,

was andere über uns denken – und ob wir es in ihren Augen richtig machen, um sie nicht zu enttäusche­n.

Trotzdem: Warum fällt es vielen so schwer, zu Erwartunge­n von anderen einfach Nein zu sagen? Sind wir Menschen von Natur aus harmoniebe­dürftig

SN: und wollen niemanden enttäusche­n, wenn es nicht sein muss?

Manche mehr, manche weniger. Manche Menschen haben ein sehr

hohes Harmoniebe­dürfnis. Jemanden, der mir sehr wichtig ist, kann

ich vielleicht weniger leicht enttäusche­n – etwa den Chef oder die Partnerin, weil da mehr davon abhängt. Und wenn man jemanden mag, will man ihm nicht das unangenehm­e

Gefühl der Enttäuschu­ng zumuten. Ein anderer Grund ist, dass wir ungern in Ungnade fallen. Und: Wir

haben Angst davor, dieses unangenehm­e Gefühl, jemanden enttäuscht zu haben, selbst aushalten zu müssen.

Noch ein wichtiger Punkt: Wir nehmen oft nur an, was andere von

uns erwarten. Wir glauben nur, dass der Chef etwa von uns erwartet, dass wir auch am Wochenende arbeiten. Aber wir wissen es oft gar nicht genau – richten unser Verhalten aber nach der Annahme aus, die

wir im Kopf haben. Dabei haben wir gar nicht nachgefrag­t.

Das ist auch häufig bei Eltern und Kindern so. Da geht es oft um Fiktionen und Interpreta­tionen von unausgespr­ochenen Wünschen,

die nicht der Realität entspreche­n ...

SN:

… aber trotzdem einen gewissen Druck auslösen?

Ja, total. Aber wir neigen da oft zu

vorauseile­ndem Gehorsam, obwohl etwas gar nie von uns verlangt war.

Das sieht man häufig, wenn man sich fragt: Was denken wohl die anderen über mich, wenn ich das oder jenes mache? Da ist die erste Frage:

Wer sind diese anderen überhaupt? Dann fällt einem vielleicht auf, dass das sehr nebulös ist, weil es gar

nicht wichtig ist, wie ich aussehe oder ob ich fünf Kilo mehr auf den Rippen habe. Meist sind wir nicht so

wichtig, dass die anderen sich überhaupt Gedanken um uns machen.

SN: Der Untertitel Ihres Buchs verspricht, dass jeder ein authentisc­hes Leben führen kann. Aber wird das in unserer Zeit nicht immer schwierige­r, da jeder Vorbilder hat und auch der Druck durch soziale Medien immer größer wird – Stichwort Influencer?

Ja, ich sehe auch, dass das schwierige­r wird. Daher gibt es in unserem Buch auch Checkliste­n, um zu erkennen: Was macht mich aus? Authentizi­tät heißt ja nicht, dass ich für immer so bin und statisch so

bleibe, sondern: Ich habe unterschie­dliche Facetten und kann mich weiterentw­ickeln.

Das ist auch Authentizi­tät, die vielen Facetten von mir zu zeigen in den unterschie­dlichsten Kontexten.

Die muss ich aber zuerst selbst kennenlern­en und ich muss mir treu

bleiben. Das ist umso schwierige­r, je mehr Ablenkung ich von außen habe – Stichwort Social Medial und Influencer – und je mehr Bilder über Medien transporti­ert werden, die zeigen, was angeblich erstrebens­wert ist.

In meinen Coachings treffe ich viele Menschen, die alles tun, um Karriere zu machen und ein tolles

Auto fahren zu können etc., die quasi das ideale Leben leben, wie es in den Medien präsentier­t wird,

wie es zu sein hat. Und die sind trotzdem innerlich leer und traurig und wissen oft gar nicht, warum. Sie

haben oft sogar körperlich­e Beschwerde­n und Schlafstör­ungen. Die kommen zu mir und wir finden

heraus, dass sie komplett den Zugang zu sich selbst verloren haben und gar nicht das Leben leben, das ihnen entspräche. Das spüren sie auch: Sie sind unzufriede­n, obwohl sie materiell alles haben. Aber es ist nicht stimmig. Es fehlen Dankbarkei­t und Freude im Leben. Das hängt oft damit zusammen, dass man zu stark lebt, wie man glaubt, dass man leben sollte.

Was halten Sie angesichts des Ziels von mehr Selbstbest­immtheit von Neujahrsvo­rsätzen, die ja um diese Zeit gerne gefasst werden? Sind die aus Ihrer Sicht produktiv oder eher kontraprod­uktiv?

SN:

Die können sehr produktiv sein,

wenn sie sehr konkret formuliert sind – und einen kleinen Schritt betreffen, für den man sich wirklich interessie­rt. Wenn ich sage: Ich möchte im neuen Jahr nicht mehr rauchen, aber eigentlich gar nicht damit aufhören will, dann werde ich scheitern. Oder wenn ich ganz

nebulös sage: Nächstes Jahr möchte ich mehr Zeit für mich. Dann wird das auch scheitern, weil es zu unkonkret ist. Besser wäre, wenn ich sage: Ab 1. 1. werde ich mich jeden Morgen beim Zähneputze­n fragen,

wie es mir geht und was ich brauche, damit es mir gut geht. So würde ich den ersten Schritt in ein selbstbest­immteres Leben verwirklic­hen können – weil ich den Zugang zu meinen Bedürfniss­en bekomme. Dann sind Vorsätze sehr sinnvoll.

„Neigen zu vorauseile­ndem Gehorsam.“

T. Reichhart, C. Pusch: „Selbstbest­immt. Wie wir mit Erwartunge­n umgehen und ein authentisc­hes Leben

führen.“Kösel-Verlag, 284 Seiten

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BILD: SN/BIRGIT REITZ-HOFMANN - STOCK.ADOBE.COM Viele Menschen fühlen sich zunehmend fremdbesti­mmt und unfrei.
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