„Viele leben nicht mehr ihr eigenes Leben“
Eine Psychotherapeutin gibt Tipps, wie man wieder mehr Selbstbestimmtheit erlangt. Und wie man mit Erwartungen anderer umgehen soll.
Tatjana Reichhart ist ausgebildete Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie und hat nach vielen
Jahren Arbeit in einer Klinik die Seiten gewechselt: Sie hat die
Kitchen2Soul-Akademie gegründet, arbeitet als Trainerin in Unternehmen – und hat nun mit Claudia Pusch einen Ratgeber veröffentlicht, wie man die Selbstbestimmtheit über das Leben wiedererlangt.
SN: Wie sind Sie auf die Idee für das Buch gekommen? Fehlt es vielen Menschen heute an Selbstbestimmtheit?
Tatjana Reichhart: Ich glaube, dass
wir eine Welt haben, in der wir sehr hohe Grade an Selbstbestimmtheit haben, die wir aber subjektiv gar nicht mehr wahrnehmen. Daher
kommen sehr viele Menschen zu mir in die Beratung oder ins Coaching, die sich selbst gehetzt und
getrieben fühlen und sagen, dass sie ständig etwas müssen – und gar
nicht mehr ihr eigenes Leben leben. Da gibt es ein hohes Maß an gefühlter Fremdbestimmtheit bei einem
gleichzeitig hohen Grad an Freiheit.
Ist nicht auch die von Kindesbeinen an extrem große Auswahl an Möglichkeiten – von Ausbildung über Beruf bis zu Hobbys und Partnerwahl – mit ein Grund, der bei manchen zu Überforderung führt?
SN:
Ja, definitiv. Früher ist der Sohn des Bauern auch Bauer geworden, die Tochter hat irgendwo eingeheiratet und Kinder bekommen. Heute haben wir es uns hart erarbeitet, so viele Freiheiten zu haben, stehen aber vor dem Paradoxon der Freiheiten: Wir stehen im Supermarkt
vor 30 Sorten an Marmeladen und haben die große Wahlfreiheit. Und schon wenn wir nach Hause kommen, überlegen wir, ob wir wirklich die richtige genommen haben – und man zweifelt an der Entscheidung
und überlegt, ob sie optimal war oder es nicht besser gegangen wäre.
Dasselbe gilt für die Partner- oder die Jobwahl und den Lebensentwurf etc.
Denn unser kapitalistisches System sagt uns ja: Wir müssen immer
noch besser und noch glücklicher sein und haben dabei die freie Wahl,
unser Leben zu gestalten. Gleichzeitig gilt das Prinzip: „Jeder ist seines Glückes Schmied.“Diese Kombination lässt auch zur Ansicht kommen: Ich bin schuld, wenn ich nicht „alles“aus mir gemacht habe.
Darum bleiben immer mehr Menschen passiv in einer Zuschauerhaltung und riskieren weniger. Sie sind nicht mehr mutig genug,
ihren gewünschten Lebensentwurf zu leben. Das hängt auch davon ab,
dass wir sehr viel darauf geben, was andere Menschen von uns halten.
SN: Welche Rolle spielen diese Erwartungen von anderen in unserem Leben?
Wenn ich es nüchtern betrachte, spielen sie eigentlich keine Rolle –
weil es mir ganz egal sein kann, was andere von mir erwarten. Rein theoretisch könnte man es so sehen. Aber wir sind sehr soziale Wesen und brauchen als Grundbedürfnis starke Verbundenheit und Zugehörigkeit zu anderen. Wir wollen uns als Menschen zugehörig fühlen. Deswegen ist es uns so wichtig,
was andere über uns denken – und ob wir es in ihren Augen richtig machen, um sie nicht zu enttäuschen.
Trotzdem: Warum fällt es vielen so schwer, zu Erwartungen von anderen einfach Nein zu sagen? Sind wir Menschen von Natur aus harmoniebedürftig
SN: und wollen niemanden enttäuschen, wenn es nicht sein muss?
Manche mehr, manche weniger. Manche Menschen haben ein sehr
hohes Harmoniebedürfnis. Jemanden, der mir sehr wichtig ist, kann
ich vielleicht weniger leicht enttäuschen – etwa den Chef oder die Partnerin, weil da mehr davon abhängt. Und wenn man jemanden mag, will man ihm nicht das unangenehme
Gefühl der Enttäuschung zumuten. Ein anderer Grund ist, dass wir ungern in Ungnade fallen. Und: Wir
haben Angst davor, dieses unangenehme Gefühl, jemanden enttäuscht zu haben, selbst aushalten zu müssen.
Noch ein wichtiger Punkt: Wir nehmen oft nur an, was andere von
uns erwarten. Wir glauben nur, dass der Chef etwa von uns erwartet, dass wir auch am Wochenende arbeiten. Aber wir wissen es oft gar nicht genau – richten unser Verhalten aber nach der Annahme aus, die
wir im Kopf haben. Dabei haben wir gar nicht nachgefragt.
Das ist auch häufig bei Eltern und Kindern so. Da geht es oft um Fiktionen und Interpretationen von unausgesprochenen Wünschen,
die nicht der Realität entsprechen ...
SN:
… aber trotzdem einen gewissen Druck auslösen?
Ja, total. Aber wir neigen da oft zu
vorauseilendem Gehorsam, obwohl etwas gar nie von uns verlangt war.
Das sieht man häufig, wenn man sich fragt: Was denken wohl die anderen über mich, wenn ich das oder jenes mache? Da ist die erste Frage:
Wer sind diese anderen überhaupt? Dann fällt einem vielleicht auf, dass das sehr nebulös ist, weil es gar
nicht wichtig ist, wie ich aussehe oder ob ich fünf Kilo mehr auf den Rippen habe. Meist sind wir nicht so
wichtig, dass die anderen sich überhaupt Gedanken um uns machen.
SN: Der Untertitel Ihres Buchs verspricht, dass jeder ein authentisches Leben führen kann. Aber wird das in unserer Zeit nicht immer schwieriger, da jeder Vorbilder hat und auch der Druck durch soziale Medien immer größer wird – Stichwort Influencer?
Ja, ich sehe auch, dass das schwieriger wird. Daher gibt es in unserem Buch auch Checklisten, um zu erkennen: Was macht mich aus? Authentizität heißt ja nicht, dass ich für immer so bin und statisch so
bleibe, sondern: Ich habe unterschiedliche Facetten und kann mich weiterentwickeln.
Das ist auch Authentizität, die vielen Facetten von mir zu zeigen in den unterschiedlichsten Kontexten.
Die muss ich aber zuerst selbst kennenlernen und ich muss mir treu
bleiben. Das ist umso schwieriger, je mehr Ablenkung ich von außen habe – Stichwort Social Medial und Influencer – und je mehr Bilder über Medien transportiert werden, die zeigen, was angeblich erstrebenswert ist.
In meinen Coachings treffe ich viele Menschen, die alles tun, um Karriere zu machen und ein tolles
Auto fahren zu können etc., die quasi das ideale Leben leben, wie es in den Medien präsentiert wird,
wie es zu sein hat. Und die sind trotzdem innerlich leer und traurig und wissen oft gar nicht, warum. Sie
haben oft sogar körperliche Beschwerden und Schlafstörungen. Die kommen zu mir und wir finden
heraus, dass sie komplett den Zugang zu sich selbst verloren haben und gar nicht das Leben leben, das ihnen entspräche. Das spüren sie auch: Sie sind unzufrieden, obwohl sie materiell alles haben. Aber es ist nicht stimmig. Es fehlen Dankbarkeit und Freude im Leben. Das hängt oft damit zusammen, dass man zu stark lebt, wie man glaubt, dass man leben sollte.
Was halten Sie angesichts des Ziels von mehr Selbstbestimmtheit von Neujahrsvorsätzen, die ja um diese Zeit gerne gefasst werden? Sind die aus Ihrer Sicht produktiv oder eher kontraproduktiv?
SN:
Die können sehr produktiv sein,
wenn sie sehr konkret formuliert sind – und einen kleinen Schritt betreffen, für den man sich wirklich interessiert. Wenn ich sage: Ich möchte im neuen Jahr nicht mehr rauchen, aber eigentlich gar nicht damit aufhören will, dann werde ich scheitern. Oder wenn ich ganz
nebulös sage: Nächstes Jahr möchte ich mehr Zeit für mich. Dann wird das auch scheitern, weil es zu unkonkret ist. Besser wäre, wenn ich sage: Ab 1. 1. werde ich mich jeden Morgen beim Zähneputzen fragen,
wie es mir geht und was ich brauche, damit es mir gut geht. So würde ich den ersten Schritt in ein selbstbestimmteres Leben verwirklichen können – weil ich den Zugang zu meinen Bedürfnissen bekomme. Dann sind Vorsätze sehr sinnvoll.
„Neigen zu vorauseilendem Gehorsam.“
T. Reichhart, C. Pusch: „Selbstbestimmt. Wie wir mit Erwartungen umgehen und ein authentisches Leben
führen.“Kösel-Verlag, 284 Seiten