Im Einklang mit dem Tod
Sechs Jahre ließen Depeche Mode die Welt auf ihr neues Album warten. Die Geduld lohnte sich: Auf „Memento Mori“finden Martin Gore und Dave Gahan zu letzten Dingen – und alten Stärken.
WIEN. „We’re an electronic band“, stellt Dave Gahan klar. Ein majestätischer Unterton begleitet seine Worte. Es ist Oktober 2022 und Depeche Mode laden zur Pressekonferenz nach Berlin. Das erste Album seit einer gefühlten Ewigkeit wird angekündigt, da kann man angesichts einer Band dieser Größenordnung von einem Weltereignis sprechen. Und dann wagt ein Journalist die Frage, ob man jemals an Akustikkonzerte gedacht hat. „We can’t really do unplugged“, antwortet der Frontman, „’cause we’re an electronic band.“
Ein halbes Jahr später wird die Bedeutung dieser Aussage deutlich. „Memento Mori“, das 15. Studioalbum von Depeche Mode, ist eine Ode an die Maschinenmusik, an ihre emotionalen Möglichkeiten und die Vielfalt künstlich erzeugter Klänge. Natürlich, die Band wird immer im vermeintlich kurzlebigen Synthiepop der 1980er-Jahre verwurzelt bleiben. Aber Martin Gore und Dave Gahan, Kopf und Performer der Formation, haben sich – damals noch im Verbund mit Klangarrangeur Alan Wilder und Andrew Fletcher – in den 1990er-Jahren neu erfunden und Gitarrenrockelemente in ihre Musik einfließen lassen. Es folgten wechselhafte Jahre, nicht immer wurde die Band ihren eigenen Ansprüchen gerecht. Jetzt, 42 Jahre nach dem ersten Hit „Just can’t Get Enough“, ist die Formation wieder im Einklang mit sich selbst.
„We’re an electronic band“: Der Satz ist eine Botschaft. Er ist nicht selbstverständlich, wenn man bedenkt, wie U2, eine andere große Band dieser Epoche, gerade alte Songs in neues Klanggewand gezwängt und sich so ihrer Stärken beraubt hat. Depeche Mode müssen nicht auf altes Material zurückgreifen, die Kreativität der Band ist allgegenwärtig. Sechs Jahre mussten die Fans auf das Album warten, die Abkehr vom traditionellen Vierjahresrhythmus ist nicht zuletzt der Coronapandemie geschuldet. Und dann starb im Mai 2022 Andy Fletcher, letztes verbliebenes Gründungsmitglied neben Gahan und Gore.
Es galt also viel aufzuarbeiten, und „Memento Mori“stellt tatsächlich eine Auseinandersetzung mit den letzten Dingen dar – auch wenn das Material schon vor Fletchers Tod entstand. „No war, no war, no war, no war / no more, no more, no more, no more / no fear, no fear, no fear, no fear / not here, not here, not here, not here“, tönt ein geisterhafter Chor im Opener „My Cosmos Is Mine“. Seitenhieb auf die Lockdownhysterie? Kommentar zur geopolitischen Lage? Beides lässt sich aus diesem hypnotisch drehenden Gothic-Walzer herauslesen. Es ist ein früher Höhepunkt des Albums, ein Türöffner, der sich mit „Black
Celebration“sowie „World in My Eyes“aus „Violator“und „I Feel You“aus „Songs of Faith and Devotion“messen kann – drei Meilensteinen der Bandgeschichte.
Der Tod rückt im folgenden Song „Wagging Tongue“erstmals in den Vordergrund. „I meet you on the river / or maybe on the other side“, singt Dave Gahan. Trotz der Abschiedsthematik klingt der Song tröstlich, dank der hellen SynthieDance-Klangwelt. Martin Gore, kreativer Kopf von Depeche Mode, scheint nicht nur zu neuer Lust an Kraftwerk- und Eigenzitaten zurückgefunden zu haben, sondern auch zu alter Pop-Eingängigkeit. Dazu trug auch die gemeinsame Arbeit mit Richard Butler, dem Frontman der Psychedelic Furs, bei. Die erste Singleauskoppelung „Ghosts Again“ist solch ein Gemeinschaftsprodukt, aber auch „My Favourite Stranger“oder „Caroline’s Monkey“– ein sehr persönliches Stück. Der Affe am Rücken dient als Sinnbild für die Last der Sucht, die sowohl Martin Gore als auch Dave Gahan an den Rand des Abgrunds getrieben hat. „There’s no satisfaction on Caroline’s train“, singt der Schmerzensmann eindringlich, als würde er von den Erfahrungen mit seinen eigenen Dämonen berichten.
Die Verbindung von Seelenbespiegelung und Melos bildet den Grundstock für die große Kunst von Depeche Mode: Tiefe und Pop. „Always You“ist solch ein Juwel, das auf eindrucksvollen Farbmischungen der synthetischen Klänge und den prägnanten Gore-Akkordstrukturen basiert. Es ist eine Reise durch verschiedene Gefühlszustände voller Wärme, Melancholie und Sehnsucht, wie sie Martin Gore in seinen besten Momenten glückt.
Das letzte Wort hat nicht der Schöpfer, sondern sein Meisterinterpret Dave Gahan, dessen Eigenkomposition „Speak to Me“zu Nahtoderfahrungen in den 1990erJahren führt. Kokain und Heroin waren damals keine so gute Kombination, doch der Sänger betont: „No one to blame.“Gahans klingendes Bekenntnis beeindruckt auch, weil es musikalisch sorgfältig aufgebaut ist und sich bis zur Transformation in Geräuschmusik mächtig steigert. Ganz große Oper.
An diesem Finaltrack hat übrigens Christian Eigner, der österreichische Tour-Schlagzeuger, mitgearbeitet. Welttourneen sind für große Bands oftmals eine Triebfeder, um an neuer Musik zu feilen. „Memento Mori“ist aber weit mehr als nur ein Funktionsgegenstand für lukrative Livekonzerte. Das Album ist ein Beweis, dass die Welt nach wie vor die dunkle Emotionalität und in Moll getönte Leidenschaft von Depeche Mode braucht. Es ist buchstäblich ein Lebenszeichen.
Seelenmusik, die zu großer Oper avanciert