Kann ein Blick Krankheit verraten?
Erwin Osen hatte den Auftrag, Krankheit abzubilden. Doch er zeichnete etwas anderes.
Johanna Klinger stammte aus dem Pavillon der Unruhigen. Gesicht und Blick der Patientin in Steinhof, der einstigen „Heil- und Pflegeanstalt für Geistes- und Nervenkrankheit“, sorgen jetzt, 110 Jahre nach der Präsentation auf einem Ärztekongress in Wien, für eine kleine Sensation. Lange als verschollen geglaubt, wird dieses Porträt im Schiele-Museum in Tulln erstmals ausgestellt. Warum Tulln? Die Geburtsstadt Egon Schieles hat ein kleines Museum diesem großen Künstler gewidmet. Und mit dieser sowie sieben weiteren Zeichnungen seines Freundes Erwin Osen, die ab dem Wochenende für eine Saison zu sehen sind, lässt sich auf faszinierende Aspekte in Persönlichkeit und Werk Egon Schieles schließen.
Wer war dieser Erwin Osen? Jedenfalls war er ein Freund Egon Schieles, jedenfalls war er Künstler und jedenfalls hat er Egon Schiele beeinflusst. Doch wie? Christian Bauer, früher Direktor der Landesgalerie Niederösterreich, hat nach seiner Egon-Schiele-Monografie nun Erwin Osen erforscht und bezeichnet dieses Thema als bisher „härteste Nuss“seiner kunsthistorischen Laufbahn. Erwin Osen war ein Tausendsassa: Maler, Zeichner und zeitweise Atelierkollege Schieles, Kostüm- und Bühnenbildner für den legendären „Parsifal“in
Prag, den Alexander Zemlinsky dirigierte, Regisseur, Kameramann sowie Varietésänger. Mit Porträts von zwölf Steinhof-Patienten hat er einen eigenartigen Auftrag erfüllt: Der Mediziner Adolf Kronfeld brauchte Anschauungsmaterial für seinen Kongressvortrag am 24. September 1913 im Hörsaal 34 der Universität Wien über die „Pathologie des Porträts“. Weil Kronfeld, auch Kunsthistoriker, überzeugt gewesen sei, dass Kunst mehr könne als Fotografie, habe er Zeichnungen von Patienten aus der Ambulanz und aus den Pavillons für Ruhige,
Halbruhige und Unruhige in Auftrag gegeben, berichtet Christian Bauer. Damit sei Erwin Osen Bahnbrechendes gelungen: Er zeige nicht die Krankheit, sondern „den Menschen hinter der Krankheit“. Nicht Symptome, sondern „der Mensch
ist das Bildthema“. Bei Recherchen für sein Buch, das im Juni erscheint, hat Christian Bauer zu den drei bekannten acht verschollen geglaubte Steinhof-Porträts entdeckt und zeigt einige in dem von ihm kuratorisch betreuten Museum in Tulln.
Auch Erwin Osens Kostümskizze des Klingsor für Prag frappiert: Dies sei ein Selbstporträt, stellt Christian Bauer fest. Erwin Osen erkenne sich als Zauberer Klingsor, überhaupt hätten ihm abgründige Figuren gefallen. Zudem sei er ein faszinierender Erzähler gewesen. Aber: Das meiste, sogar biografische Details beginnend mit Geburt und Vorfahren, „führt ins Leere“, sei also erfunden. Seine Grundhaltung: Ob Wahrheit oder Lüge sei irrelevant, der Lebenslauf sei Teil der künstlerischen Selbstdarstellung.
Das mag blöd für eine Biografie sein, aber für die Frage von Anfang, Grenze und Essenz der Kunst ist es grandios. Vom Gedanken der Selbstbefreiung von Schicksal und Umfeld zu eigenmächtig gestaltetem Leben ist es ja nicht weit zum Ich als Kunstwerk. Christian Bauer hält Erwin Osen für einen Vorläufer von David Bowies Ziggy Stardust: „Er ist eine Kunstfigur.“
Welchen Einfluss hatte er auf Schiele? Als „durchgeknallter Typ mit universellen Talenten“habe er ihn vielfach inspiriert. Dank Osen habe Schiele das damals empörende Thema der Nacktheit als Urzustand aufgegriffen. Das bezeugt übrigens die Zeichnung „Zwei liegende Mädchenakte“im frisch behängten Tullner Kabinett mit SchieleOriginalen. Zwei Mal haben die beiden ein Atelier geteilt, sie haben einander gezeichnet oder etwas vom anderen kopiert. Zu zweit sind sie nach Krumau gereist, wobei nach Angaben Christian Bauers Egon Schiele die effektvoll bunte Wäsche von Erwin Osen abgeschaut hat.
Ein Vorläufer von Ziggy Stardust
Ausstellung: Egon Schiele, „Blicke“sowie Erwin Osen, Zeichnungen und Mischtechnik auf Papier, SchieleMuseum, Tulln, bis 5. November.