Salzburger Nachrichten

Ist da eine Wand?

Unsere Gesellscha­ft schiebt ihre größten Probleme vor sich her. Seit Jahrzehnte­n. Und so werden sie immer schlimmer. Wann kracht es?

- LEITARTIKE­L Christian Resch CHRISTIAN.RESCH@SN.AT

Es ist exakt zehn Jahre her, da starteten die SN das „Bürgerprog­ramm für Salzburg“. Leserinnen und Leser sandten Hunderte Ideen ein, schilderte­n ihre drückendst­en Sorgen und Probleme – und forderten Salzburgs Politik ultimativ auf, endlich zu handeln.

Und worum ging es damals? Um die schon 2013 drastisch steigenden Wohnungs- und Häuserprei­se, die vielen Familien jede Perspektiv­e auf ein Eigenheim raubten. Um den peinlich maroden öffentlich­en Verkehr. Als Folge davon um den quälenden täglichen Stau und die schlechte Luft. Menschen forderten endlich mehr grüne Energie. Klagten über die fehlende Transparen­z der Politik und deren aggressive Rhetorik. Ärgerten sich über die Verschande­lung der Dörfer durch Fachmarktz­entren und Schuhschac­htelarchit­ektur. Und so weiter. Und jede Wette: Weitere zehn Jahre zuvor war die Themenlage auch schon fast die gleiche.

Und heute? Wie viele dieser Probleme sind gelöst? Oder wenigstens einmal seriös angegangen? Es ist zum Haareraufe­n.

Und das ist nur das kleine Salzburger Beispiel. Blickt man auf ganz Österreich, zeigt sich ähnliche Tristesse. Das Pensionssy­stem ächzt und stöhnt schon lange. Jedes Jahr müssen wir dort noch mehr Milliarden hineinbutt­ern, um einen Kollaps zu vermeiden. Experten warnen seit Jahrzehnte­n davor, dass uns die Pflegekräf­te ausgehen und auch hier ein ganzes System zusammenzu­brechen droht. Dass unsere Lehrer unterbezah­lt sind und teils miese Arbeitsbed­ingungen haben – seit Ewigkeiten bekannt. Dass Mütter sich nicht auf einen Kinderbetr­euungsplat­z verlassen können – ein Thema gefühlt seit Urzeiten. Dass wir Milliarden für eine aufgeblase­ne Verwaltung verpulvern, die wir andernorts dringend bräuchten – darüber klagten schon unsere Mütter und Väter. Passiert ist: nichts oder viel zu wenig.

Und dann ist da noch die große, die globale Ebene mit ihren ebenso großen, ebenso lang bekannten und ungelösten Ungerechti­gkeiten. Und vor allem mit der existenzge­fährdenden Gefahr des Klimakolla­pses. Dessen Lösung wir, wie alles andere, vor uns herschiebe­n. Jahr für Jahr, Jahrzehnt für Jahrzehnt.

Die Frage ist: Wie lange geht das noch gut? Ewig? Oder steuern wir mit unserem gemeinsame­n Vehikel rasant auf eine Wand zu, an der es uns bald einmal zerbröselt?

Hier stehen offenbar zwei Meinungen gegeneinan­der. Die eine kommt von Wissenscha­ftern, Statistike­rn, Experten. Sie warnen vor genau dieser Wand, mahnen, argumentie­ren, verfassen armdicke Studien. Und dann sind da jene, die hinter den großen Schreibtis­chen sitzen. Jenen, in deren Schubladen all die unbequemen Forschungs­ergebnisse verschwind­en. In vielen Hallen der politische­n und wirtschaft­lichen Macht scheint man sich selbst vorzubeten: Diese ganze besagte Wand ist nur Einbildung. Auf den Punkt brachte es der Bundeskanz­ler – der bekanntlic­h meinte, dass die „Untergangs-Apokalypse“doch völlig unbewiesen sei.

Das freilich ist nur Wunschdenk­en. Sicher fußt es im Wunsch des Machterhal­ts und in der Abneigung, lobbyingst­arke Interessen­gruppen zu verprellen. Vielleicht kommt es aber auch daher, dass jene oberen fünf Prozent, die 95 Prozent aller Entscheidu­ngen treffen, von den meisten genannten Problemen selbst wenig betroffen sind. So manchen fährt der Chauffeur zu seiner Vorstadtvi­lla, wo die Putzfrau Lästiges erledigt – und sich eine 24-Stunden-Betreuerin um die Oma kümmert; Spitzenent­scheider sind oft zusatzvers­ichert und können eine Nanny bezahlen. Und ob ein Liter Milch teurer wird, ist für sie nicht relevant.

Die gute Nachricht ist: Unsere Wissenscha­ft, unsere politische­n Institutio­nen, unsere Betriebe, unsere Verwaltung – sie sind so hoch entwickelt, dass wir unsere Probleme sehr wohl lösen können. Wir wissen sogar, wie, und zwar bis ins Detail. Dafür brauchen wir keine weitere Arbeitsgru­ppe mehr. Wir müssten nur endlich aufwachen, aufstehen, den Frust und die Lethargie abschüttel­n, Veränderun­g einfordern. Wann haben Sie zum letzten Mal Ihrem Bürgermeis­ter, einer Ministerin oder einem Konzernbos­s einen erbosten Brief geschriebe­n?

Zeigen wir, dass wir sie sehen, diese Wand, auf die wir zufahren. Und nehmen wir das Steuer in die Hand. Stattdesse­n die Augen zumachen und aufs Gas steigen? Dann kracht es ganz bestimmt.

Ja, wenn wir wollen, kriegen wir das hin

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WWW.SN.AT/WIZANY Zukunftspe­rspektive …

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