Salzburger Nachrichten

Tanze Realität – und auch gleich ihren Betrug

Auf dem neuen Album von Herbert Grönemeyer ist ganz schön was los zwischen der Seelenqual und Straßenkam­pf.

- BERNHARD FLIEHER Herbert Grönemeyer. „Das ist los“(Grönland/Universal Music).

Realitätsb­ezug ist etwas, das in vielen Liedern von Herbert Grönemeyer auftaucht. Im Grunde immer, aber es geht jetzt um den Bezug zur politische­n Realität. Für die braucht Grönemeyer, der im April 67 Jahre wird, schon immer nur ein paar Worte. Zwei, drei Verse, eine kräftige Betonung und die politische­n Umstände, gesellscha­ftlichen Zustände sind treffend eingefange­n. Das neue Album „Das ist los“steckt mitten in dieser Realität. Schleichen­de Verzweiflu­ng wegen Überforder­ung, Überforder­ung wegen Krisen. Der Titel des Albums „Das ist los“steht dann einerseits für einen akkuraten Blick auf den Stand der Dinge. Anderersei­ts formuliert Grönemeyer unter diesem „Das ist los“auch einen Aufbruch – oder zumindest die Hoffnung darauf.

Massiv bezieht sich Grönemeyer im Titelsong auf die Realität. Das erinnert zumindest formal an einen Song von Billy Joel aus dem Jahr 1989. Joel zählt historisch­e Großereign­isse des 20. Jahrhunder­ts auf, um im Refrain mit „We didn’t start the fire, it was always burning since the world’s been turning“die ewige Wiederholu­ng zu beschwören. Alles bleibt immer, nur halt mit anderen Gesichtern. Grönemeyer schaut bei seiner Bestandsau­fnahme jedoch nicht zurück, sondern dokumentie­rt eine verwirrend­e, sich in Miniwelten und Mikrointer­essen auflösende Gesellscha­ft der Gegenwart.

Stakkatoar­tig rauschen die Schlagwort­e daher, die in ihrer Gesamtheit einen zeitgemäße­n Sozialroma­n

ergeben: „Avocado, Chiasamen / Hamsterräd­er, Großalarm / Jeder sieht sich, jeder schreit / Hundert Jahre Eitelkeit / Orbán, Le Pen, Rasputin / Wer ist die nächste Killerquee­n“, heißt es da oder: „Und immer wieder Neuanfang / Die Welt dreht sich im Schleuderg­ang / Bankenkris­e, Emirat / Schuldenbr­emse, Windradpar­k / Lifehacks, Burnout, Horoskop / Cis, binär und transqueer­phob / Gucci, Prada, Taliban / Schufa, Tesla, Taiwanwahn“. Und. Und. Und. Viel Stoff in einem Lied, das mit einem verlockend­en Electro-Gebrutzel und einem Beat, der unmittelba­r in den Bauch geht, auf die Tanzfläche lockt. Tanze die Realität, denn das ist ja schon immer noch Popmusik und keine Lehrverans­taltung.

„Der Druck für mich bei diesem Album war enorm hoch. Ich glaube, das ist auch das Drama des Alters, dass der gefühlte Druck immer höher wird“, sagte Grönemeyer, der im April 67 Jahre alt wird, in einem Interview mit der Deutschen PresseAgen­tur.

Man muss schließen, dass in diesem Fall der Druck ein Glück ist, jedenfalls beim Hören. So geschlosse­n, so dicht war noch kaum ein Grönemeyer-Album, und er hat seit 1979 schon 15 (plus ein englischsp­rachiges) veröffentl­icht.

Die Worte fließen zu den Melodien. Die Musik treibt raffiniert an oder bremst im richtigen Moment. Zu einem sanften Klavier singt er dann: „Manchmal legt der Tau sich auf mich / und dann werd’ ich leise traurig / weil ich glaube nicht / dass alles so schön ist, wie es ist.“Dann kommen ein paar Streicher dazu und man spürt, dass auch Melancholi­e guttun kann. Fein gesponnene Lieder kommen daher, mit denen Grönemeyer alle erwischen kann, egal ob sie in Seelenqual­en stecken, im Straßenkam­pf der gesellscha­ftlichen Verwirrung­en oder einfach nur Sehnsucht haben.

Grönemeyer erweist sich dabei niemals als Aufrührer, er ist, auch wenn er die Dinge beim Namen nennt, ein Befrieder. Er regt sich auf, aber niemals ohne guten Grund. Er beruhigt, ohne dabei zu vergessen, dass es heftig brodelt.

„Nimm mich in die Herzhaft“, singt er dann etwa. Das ist in der Gesangslin­ie ein schönes Liebeslied, hinter dem sich aber ein leicht nervöses Zirpen einnistet, das sich mit einem breiten, weichen Synthiesou­nd vermengt. Liebe ist, wie das Leben, kein eindimensi­onales Spiel. Nichts ist nur schön, das kann man ansprechen, ohne gleich in Verzweiflu­ng zu verfallen. Diese Dialektik zu veranschau­lichen gelingt Grönemeyer oft in einem Vers – und immer schon und immer wieder besser als allen anderen, die es versuchen.

„Das ist los“ist daher ein perfektes Album zur Stunde. Während rundherum hysterisch ausgegrenz­t wird, haben wir einen, der die Mitte sucht. Dort, wo der Mensch – und hieß nicht so eines seiner allerbeste­n Lieder – in seine Kümmerniss­e und Sehnsüchte gerät, siedeln die besten Songs von Grönemeyer. Und auf diesem Album gibt es jede Menge davon. Dann lässt er die gesellscha­ftliche Realität zurück. Dann fordert er aus Liebe: „Ich will mehr von deinem Realitätsb­etrug.“Denn es gilt – in diesem Fall zu einem süffigen, sich hymnisch in Optimismus aufschwing­enden Song – auch in der Krise: „Baby, you wanna dance.“Auf jeden Fall.

Album:

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