Die Wahrheit ist eine gute Erfindung
Wenn das Ziel immer im Weg steht. Nie kam jemand der Wahrheit so nahe wie Sokrates. Er war weise genug, um zu wissen, dass er nichts weiß.
„Die Wahrheit ist gefräßig. Die Wahrheit ist ein Tier. Die Wahrheit wird nicht müde. Sie lässt nicht mehr von dir.“Das singt der Schweizer Musiker Stephan Eicher in seinem Lied „In Wolken“. Da geht es um Begehren,
Liebe, Treue und Ehrlichkeit. Hier klingt es bedrohlich, sollte die Wahrheit doch noch ans Licht kommen, Eicher löst sein moralisches Problem elegant, indem er seiner schlafenden Frau ins Ohr flüstert: „Warum willst du wissen, wie alles wirklich war. Am Ende sind die Lügen – doch fast genauso wahr.“
Kann es sein, dass Politiker wie Donald Trump so erfolgreich wurden, weil der Mensch seit jeher mit alternativen Fakten experimentiert? Wir schützen uns mit leichtfüßigen Geschichten vor den drastischen Auswirkungen harter Fakten. Voltaire formulierte das so: „Ein Gefühl, das beim Hören einer schönen Geschichte entsteht, ist mir tausendmal lieber als ein Theorem, das ein brillanter Mathematiker aufgestellt hat – aber nicht schön ist.“Boris Vian packte diese ganz persönliche Erkenntnis in seinem Roman „Der Schaum der Tage“schon in den ersten Satz, den er seinem Werk voranstellte: „Diese Geschichte ist wahr. Ich habe sie selbst erfunden.“
Womit wir bei der ersten wichtigen Unterscheidung angelangt sind: Die Wahrheit hat mit der Wirklichkeit nur selten etwas zu tun. Weil sich ja schon die Wahrnehmung von der Wirklichkeit grundlegend unterscheiden kann. Der Physiker Werner Gruber sagt, dass nicht einmal die Naturwissenschaft den Anspruch erheben kann, im Besitz der Wahrheit zu sein. Er nennt Galileo Galilei, der als erster Naturwissenschafter betrachtet werden kann, weil er nicht nur das Mikroskop und das Teleskop erfand, sondern auch das Gravitationsgesetz formulierte. Mit seinen Theorien hatte er zwar recht, aber wahr waren sie nicht. Denn Galileos „Gesetz“wurde hundert Jahre später durch jenes von Isaac Newton ersetzt. Wieder 200 Jahre später wurde dieses von Albert Einsteins Relativitätstheorie infrage gestellt. Hatte Newton Unrecht? „Nein“, sagt Gruber. „Er hatte nur schlechtere Messgeräte.“
Als größtes Hindernis bei der Suche nach der endgültigen Wahrheit steht sich der aufgeklärte Mensch mit seiner Eitelkeit wohl selbst im Weg. Denn dieser glaubt zwar viel zu wissen – klug ist er aber nicht. Das wusste Sokrates schon vor mehr als 2500 Jahren, als er stolz behauptete: „Ich weiß, dass ich nichts weiß.“Niemals davor und auch nicht später kam ein Mensch der Suche nach der endgültigen Wahrheit so nahe wie dieser griechische Philosoph. Er lieferte uns damals sogar noch eine Hilfestellung, wie man die Klugen von den Normalen und vor allem von den Dummen unterscheiden kann: „Der Kluge“, so sagte er, „lernt aus allem und von jedem. Der Normale lernt aus seinen Erfahrungen. Nur der Dumme weiß alles besser.“
Diese Spur führt uns zu unseren Kindern, die noch weitgehend frei von Vorurteilen sind. Wenn sie etwa im Religionsunterricht von dem allmächtigen, allwissenden und allgütigen Gott hören, dann reagieren sie aus Mitgefühl skeptisch und stellen die Frage:
„Welchen Gott hat eigentlich Gott?“Ein Erwachsener aber glaubt zu wissen: „Es gibt nur einen Gott.“Und da sind wir bei der zweiten wichtigen Unterscheidung: Um der Wahrheit nahezukommen, muss man zuerst eine Meinung haben. Aus dieser kann – wenn man Mitstreiter hat – ein Glaube werden, der im besten Fall bewiesen werden kann. Wäre das dann die Wahrheit? „Nein“, meine Voltaire. Er sagte: „Es gibt keine unbestrittene Wahrheit.“
Im hohen Alter wird man abgeklärter. Mit viel Lebenserfahrung dämmert so manchen, dass die endgültige Wahrheit im Leben verborgen bleibt. Also jene Wahrheit, nach der wir zwar zeitlebens streben, von der wir aber wissen, dass wir sie nie enthüllen werden. Dieses Licht der Erkenntnis, so formulieren es etwa Licht- und Mysterienorden wie die Freimaurer, könne man erst erlangen, wenn man ein „vollendeter Mensch“ist. Das klingt wie ein Titel. Aber nachdem diese Auszeichnung in dieser Denkart nur jenen vorbehalten ist, die in den Tod „vorangegangen“sind, wird einem gewahr, dass die endgültige Wahrheit so lange wie möglich auf sich warten lassen sollte. Wer es eilig hat, dem legt der Physiker Gruber den Satz des Pythagoras ans Herz:
a2 + b2 = c2. Der sei ewig wahr. Leider ist die Mathematik für die meisten Menschen die Hölle auf Erden.