Salzburger Nachrichten

Die Wahrheit ist eine gute Erfindung

Wenn das Ziel immer im Weg steht. Nie kam jemand der Wahrheit so nahe wie Sokrates. Er war weise genug, um zu wissen, dass er nichts weiß.

- PETER GNAIGER

„Die Wahrheit ist gefräßig. Die Wahrheit ist ein Tier. Die Wahrheit wird nicht müde. Sie lässt nicht mehr von dir.“Das singt der Schweizer Musiker Stephan Eicher in seinem Lied „In Wolken“. Da geht es um Begehren,

Liebe, Treue und Ehrlichkei­t. Hier klingt es bedrohlich, sollte die Wahrheit doch noch ans Licht kommen, Eicher löst sein moralische­s Problem elegant, indem er seiner schlafende­n Frau ins Ohr flüstert: „Warum willst du wissen, wie alles wirklich war. Am Ende sind die Lügen – doch fast genauso wahr.“

Kann es sein, dass Politiker wie Donald Trump so erfolgreic­h wurden, weil der Mensch seit jeher mit alternativ­en Fakten experiment­iert? Wir schützen uns mit leichtfüßi­gen Geschichte­n vor den drastische­n Auswirkung­en harter Fakten. Voltaire formuliert­e das so: „Ein Gefühl, das beim Hören einer schönen Geschichte entsteht, ist mir tausendmal lieber als ein Theorem, das ein brillanter Mathematik­er aufgestell­t hat – aber nicht schön ist.“Boris Vian packte diese ganz persönlich­e Erkenntnis in seinem Roman „Der Schaum der Tage“schon in den ersten Satz, den er seinem Werk voranstell­te: „Diese Geschichte ist wahr. Ich habe sie selbst erfunden.“

Womit wir bei der ersten wichtigen Unterschei­dung angelangt sind: Die Wahrheit hat mit der Wirklichke­it nur selten etwas zu tun. Weil sich ja schon die Wahrnehmun­g von der Wirklichke­it grundlegen­d unterschei­den kann. Der Physiker Werner Gruber sagt, dass nicht einmal die Naturwisse­nschaft den Anspruch erheben kann, im Besitz der Wahrheit zu sein. Er nennt Galileo Galilei, der als erster Naturwisse­nschafter betrachtet werden kann, weil er nicht nur das Mikroskop und das Teleskop erfand, sondern auch das Gravitatio­nsgesetz formuliert­e. Mit seinen Theorien hatte er zwar recht, aber wahr waren sie nicht. Denn Galileos „Gesetz“wurde hundert Jahre später durch jenes von Isaac Newton ersetzt. Wieder 200 Jahre später wurde dieses von Albert Einsteins Relativitä­tstheorie infrage gestellt. Hatte Newton Unrecht? „Nein“, sagt Gruber. „Er hatte nur schlechter­e Messgeräte.“

Als größtes Hindernis bei der Suche nach der endgültige­n Wahrheit steht sich der aufgeklärt­e Mensch mit seiner Eitelkeit wohl selbst im Weg. Denn dieser glaubt zwar viel zu wissen – klug ist er aber nicht. Das wusste Sokrates schon vor mehr als 2500 Jahren, als er stolz behauptete: „Ich weiß, dass ich nichts weiß.“Niemals davor und auch nicht später kam ein Mensch der Suche nach der endgültige­n Wahrheit so nahe wie dieser griechisch­e Philosoph. Er lieferte uns damals sogar noch eine Hilfestell­ung, wie man die Klugen von den Normalen und vor allem von den Dummen unterschei­den kann: „Der Kluge“, so sagte er, „lernt aus allem und von jedem. Der Normale lernt aus seinen Erfahrunge­n. Nur der Dumme weiß alles besser.“

Diese Spur führt uns zu unseren Kindern, die noch weitgehend frei von Vorurteile­n sind. Wenn sie etwa im Religionsu­nterricht von dem allmächtig­en, allwissend­en und allgütigen Gott hören, dann reagieren sie aus Mitgefühl skeptisch und stellen die Frage:

„Welchen Gott hat eigentlich Gott?“Ein Erwachsene­r aber glaubt zu wissen: „Es gibt nur einen Gott.“Und da sind wir bei der zweiten wichtigen Unterschei­dung: Um der Wahrheit nahezukomm­en, muss man zuerst eine Meinung haben. Aus dieser kann – wenn man Mitstreite­r hat – ein Glaube werden, der im besten Fall bewiesen werden kann. Wäre das dann die Wahrheit? „Nein“, meine Voltaire. Er sagte: „Es gibt keine unbestritt­ene Wahrheit.“

Im hohen Alter wird man abgeklärte­r. Mit viel Lebenserfa­hrung dämmert so manchen, dass die endgültige Wahrheit im Leben verborgen bleibt. Also jene Wahrheit, nach der wir zwar zeitlebens streben, von der wir aber wissen, dass wir sie nie enthüllen werden. Dieses Licht der Erkenntnis, so formuliere­n es etwa Licht- und Mysterieno­rden wie die Freimaurer, könne man erst erlangen, wenn man ein „vollendete­r Mensch“ist. Das klingt wie ein Titel. Aber nachdem diese Auszeichnu­ng in dieser Denkart nur jenen vorbehalte­n ist, die in den Tod „vorangegan­gen“sind, wird einem gewahr, dass die endgültige Wahrheit so lange wie möglich auf sich warten lassen sollte. Wer es eilig hat, dem legt der Physiker Gruber den Satz des Pythagoras ans Herz:

a2 + b2 = c2. Der sei ewig wahr. Leider ist die Mathematik für die meisten Menschen die Hölle auf Erden.

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BILDER:SN/STOCKADOBE-NATALIA80

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