Wo die Schule versagt
Haben wir die falschen Lehrer, Frau Hirn? Ein philosophisches Gespräch über Bildung, Pädagogen und deren lange Ferien.
Das Café Z im 15. Bezirk in Wien gleicht einer Konditorei. Das in die Jahre gekommene Interieur wirkt museal und zugleich gemütlich. Die Philosophin Lisz Hirn verkehrt in der „Kondi“regelmäßig und veranstaltet philosophische Abende im Grätzl-Café. Ein guter Ort, um eine Bildungsutopie zu formulieren.
Sollen wir das mit der Bildung lieber lassen, Frau Hirn?
SN:
Lisz Hirn: (lacht) Bitte nicht! Gerade die Pandemie hat gezeigt, wie wichtig Bildung ist, und auch, dass uns digitale Lösungen allein nicht weiterbringen. Wir brauchen mehr, nicht weniger Bildung und die passenden Vorbilder dazu.
SN: Was läuft also falsch?
Die Beziehung zwischen Lehrperson und Schüler wird oft vergessen. Diese ist jedoch wesentlich für den Lernerfolg. Das ist aber nichts Neues und wurde schon in den pädagogischen Schriften des 18. Jahrhunderts thematisiert.
SN: Welche Werte muss eine Lehrperson mitbringen, um erfolgreiche Bildungsarbeit leisten zu können?
Schon in der Antike ging es um die Selbsterziehung und die Sorge um sich selbst. Es geht daher um die Vorbildfunktion des Lehrers, der Lehrerin, die vor den inhaltlichen Kompetenzen steht. Die Lehrperson muss durch das Verhalten, die Mimik und Gestik ein Vorbild abgeben. Es geht nicht nur darum, Inhalte vorzubeten und zu bespaßen. Essenziell ist die Haltung der Erzieherin zur Bildung und zur Wissensvermittlung an sich. Dass dafür in unserer Zeit wenig Zeit bleibt und sprachliche Barrieren in den Schulen hinzukommen, ist die andere Seite.
Müssen wir Fremdsprachen, Stichwort Migration, nicht endlich als bildungspolitische Chance sehen?
SN:
Wir fahren doppelgleisig. Sprachen wie Türkisch oder Serbokroatisch werden schlechter gewertet als Englisch oder Russisch. Die Gesellschaft nimmt eine Wertung vor, welche Sprachen von Nachteil sind und welche „man“braucht. Mit dieser Doppelmoral müssen wir aufhören – wir vergeben Potenzial.
SN: Welche Rolle erfüllt die Schule?
Die Schule hat nicht mehr nur den Anspruch der Wissensvermittlung – sie muss auch immer mehr soziale Agenden übernehmen. Die Bildungsaufgabe wird dadurch nicht erleichtert.
Lehrpersonal ist Mangelware. Politische Akteure fordern eine rasche pädagogische Ausbildung, wie soll sich ein Lehrer, eine Lehrerin da noch zusätzlich erbauen?
SN:
Das ist ein ganz großes Problem. Pädagogische Erfahrung braucht Zeit. Diese Zeit haben wir aber nicht – die Marktorientierung und der Inhalt stehen im Vordergrund. Der Wunsch, Bildung zu ökonomisieren, ist groß, die Leistung muss messbar sein. Obwohl wir als Gesellschaft finanziell viel in den Bildungsbereich zahlen, steigen wir aber sehr schlecht aus. Ein Studium erfordert Zeit – es geht nicht nur um die Replizierung von Wissen, es geht um ein tieferes Verständnis für ein Fach. Schnelligkeit geht immer auf Kosten der Qualität. Der Notstand jetzt war absehbar. An Evaluierungen mangelt es uns nicht. Irgendwann müssen wir auch den Mut haben, Quereinsteiger in die Schulen zu lassen.
SN: Was müssen wir tun?
Wir müssen für eine Bildung sorgen, die Menschen so viele Fähigkeiten gibt, dass diese selbst mit komplexen Herausforderungen zurechtkommen können.
SN: Damit wären wir wieder bei der Fähigkeit, sich Wissen selbst anzueignen?
Es geht um die klassischen Dinge, die in der Volksschule erlernt werden sollten. Wenn jemand gut lesen kann, adäquat schreiben und rechnen kann, hat jemand zumindest die Voraussetzungen, sich später selbst etwas beizubringen. Werden Grundfähigkeiten in der Volksschule nicht vermittelt, wird es auch später schwer, Interesse für den Wissenserwerb aufzubringen. Pädagoginnen und Pädagogen, die nicht nur einen Fächerkanon und Inhalte predigen, sondern Neugierde wecken und Begeisterung für ein Fach – die brauchen wir. Dazu muss das schulische Umfeld aber auch passen und flexibler werden. Vielleicht bringt man dann nicht alle Inhalte in einem Schuljahr unter, schafft aber, ein Fach wie Biologie, Informatik oder Philosophie und Psychologie mit aktuellen Fragen – wie zum Beispiel rund um ChatGTP – zu verknüpfen.
SN: Lehrende möchten junge Menschen für Literatur und Kunst begeistern, besitzen aber selbst kein Theaterabo und werden daher auch oft nicht ernst genommen. Kurz gesagt: Sie tun nicht, was sie von anderen verlangen.
Freilich kann sich eine Lehrperson nur auf die Inhalte beschränken. Wenn ich diese aber selbst nicht lebe, werde ich mit der Vermittlung gerade in diesen Gegenständen keinen Erfolg haben. Wir müssen wieder lernen, in andere Rollen zu schlüpfen. Dafür haben wir Literatur und vor allem das Theater. Überhaupt ist das Theater eine Notwendigkeit für eine demokratische Gesellschaft.
SN: Widmen wir uns zu sehr der Ausbildung und zu wenig der Bildung?
Natürlich dirigiert die Wirtschaft – Sponsoring spielt in Schulen eine Rolle. Dadurch entstehen ethische und moralische Interessenkonflikte. Auch politische Einflüsse spielen an den Schulen eine Rolle. Direktoren werden oft noch nach politischen Farben besetzt. Die Schule und die Unis könnten Räume der Muße sein, Räume, an denen ungestört gelernt und geforscht werden kann. Das wäre die Utopie. Unsere Aufgabe wäre also, diese Räume vor den marktwirtschaftlichen Interessen und schnellen
Schüssen zu schützen. Ich erinnere auch an die ständige Diskussion, brauchen wir Orchideenfächer an den Universitäten oder sollten wir das Budget nicht lieber in Fächer stecken, die sich der Digitalisierung widmen? Das ist kurz gedacht. Wir wissen nicht, was die Zukunft bringt und was wir brauchen werden, um sie zu bewältigen.
SN: Sollen Lehrerinnen und Lehrer betriebsamer in der Ferienzeit sein?
Eine Neiddebatte über die Ferien dürfen wir nicht führen – der Job ist hart genug. Die Herausforderungen, die Pädagogen bewältigen müssen, sind enorm. Die freie Zeit sollte die Qualität sichern und eine Regeneration ermöglichen. Aber auch die Fortbildungsmöglichkeit muss in dieser Zeit gegeben sein. Für die Beschäftigung mit dem Fach und die neuen Methoden braucht es Zeit. Die Stellung des Berufs des Lehrers, der Lehrerin ist problematisch, der Respekt ist vielfach abhandengekommen. Von Schülern, aber auch von den Eltern. Heute sind die Lehrpersonen keine Autoritäten mehr, sondern in der Defensive.
SN: Was wäre Ihr Wunsch?
Dass Bildung wieder ernst genommen wird. Nicht aus einem romantischen Bildungsideal heraus, sondern aus der Erkenntnis, dass sie für eine demokratische Gesellschaft notwendig ist. Das würde sich an einem respektvolleren Umgang mit dem Erzieher, der Pädagogin zeigen, die Grundkenntnisse für das Fach vermitteln – zumindest in höheren Schulen interdisziplinär denken und auch Kunst, Kultur und Wissenschaft ins Fach mit einbeziehen. Das kollektive Jammern darüber, dass ein Sehr gut von vor zehn Jahren wenig zu tun hat mit einem Sehr gut heute, ist auch darauf zurückzuführen, dass der Bezug zu Literatur und Lesen fehlt. Das wirkt sich auf das Denken aus. Nicht wir haben keine, sondern wir nehmen uns scheinbar keine Zeit mehr dafür.
Zur Person: Lisz Hirn, geboren 1984, ist als Philosophin, Publizistin und Dozentin in der Jugend- und Erwachsenenbildung tätig.