Salzburger Nachrichten

Wo die Schule versagt

Haben wir die falschen Lehrer, Frau Hirn? Ein philosophi­sches Gespräch über Bildung, Pädagogen und deren lange Ferien.

- MARCO RIEBLER

Das Café Z im 15. Bezirk in Wien gleicht einer Konditorei. Das in die Jahre gekommene Interieur wirkt museal und zugleich gemütlich. Die Philosophi­n Lisz Hirn verkehrt in der „Kondi“regelmäßig und veranstalt­et philosophi­sche Abende im Grätzl-Café. Ein guter Ort, um eine Bildungsut­opie zu formuliere­n.

Sollen wir das mit der Bildung lieber lassen, Frau Hirn?

SN:

Lisz Hirn: (lacht) Bitte nicht! Gerade die Pandemie hat gezeigt, wie wichtig Bildung ist, und auch, dass uns digitale Lösungen allein nicht weiterbrin­gen. Wir brauchen mehr, nicht weniger Bildung und die passenden Vorbilder dazu.

SN: Was läuft also falsch?

Die Beziehung zwischen Lehrperson und Schüler wird oft vergessen. Diese ist jedoch wesentlich für den Lernerfolg. Das ist aber nichts Neues und wurde schon in den pädagogisc­hen Schriften des 18. Jahrhunder­ts thematisie­rt.

SN: Welche Werte muss eine Lehrperson mitbringen, um erfolgreic­he Bildungsar­beit leisten zu können?

Schon in der Antike ging es um die Selbsterzi­ehung und die Sorge um sich selbst. Es geht daher um die Vorbildfun­ktion des Lehrers, der Lehrerin, die vor den inhaltlich­en Kompetenze­n steht. Die Lehrperson muss durch das Verhalten, die Mimik und Gestik ein Vorbild abgeben. Es geht nicht nur darum, Inhalte vorzubeten und zu bespaßen. Essenziell ist die Haltung der Erzieherin zur Bildung und zur Wissensver­mittlung an sich. Dass dafür in unserer Zeit wenig Zeit bleibt und sprachlich­e Barrieren in den Schulen hinzukomme­n, ist die andere Seite.

Müssen wir Fremdsprac­hen, Stichwort Migration, nicht endlich als bildungspo­litische Chance sehen?

SN:

Wir fahren doppelglei­sig. Sprachen wie Türkisch oder Serbokroat­isch werden schlechter gewertet als Englisch oder Russisch. Die Gesellscha­ft nimmt eine Wertung vor, welche Sprachen von Nachteil sind und welche „man“braucht. Mit dieser Doppelmora­l müssen wir aufhören – wir vergeben Potenzial.

SN: Welche Rolle erfüllt die Schule?

Die Schule hat nicht mehr nur den Anspruch der Wissensver­mittlung – sie muss auch immer mehr soziale Agenden übernehmen. Die Bildungsau­fgabe wird dadurch nicht erleichter­t.

Lehrperson­al ist Mangelware. Politische Akteure fordern eine rasche pädagogisc­he Ausbildung, wie soll sich ein Lehrer, eine Lehrerin da noch zusätzlich erbauen?

SN:

Das ist ein ganz großes Problem. Pädagogisc­he Erfahrung braucht Zeit. Diese Zeit haben wir aber nicht – die Marktorien­tierung und der Inhalt stehen im Vordergrun­d. Der Wunsch, Bildung zu ökonomisie­ren, ist groß, die Leistung muss messbar sein. Obwohl wir als Gesellscha­ft finanziell viel in den Bildungsbe­reich zahlen, steigen wir aber sehr schlecht aus. Ein Studium erfordert Zeit – es geht nicht nur um die Replizieru­ng von Wissen, es geht um ein tieferes Verständni­s für ein Fach. Schnelligk­eit geht immer auf Kosten der Qualität. Der Notstand jetzt war absehbar. An Evaluierun­gen mangelt es uns nicht. Irgendwann müssen wir auch den Mut haben, Quereinste­iger in die Schulen zu lassen.

SN: Was müssen wir tun?

Wir müssen für eine Bildung sorgen, die Menschen so viele Fähigkeite­n gibt, dass diese selbst mit komplexen Herausford­erungen zurechtkom­men können.

SN: Damit wären wir wieder bei der Fähigkeit, sich Wissen selbst anzueignen?

Es geht um die klassische­n Dinge, die in der Volksschul­e erlernt werden sollten. Wenn jemand gut lesen kann, adäquat schreiben und rechnen kann, hat jemand zumindest die Voraussetz­ungen, sich später selbst etwas beizubring­en. Werden Grundfähig­keiten in der Volksschul­e nicht vermittelt, wird es auch später schwer, Interesse für den Wissenserw­erb aufzubring­en. Pädagoginn­en und Pädagogen, die nicht nur einen Fächerkano­n und Inhalte predigen, sondern Neugierde wecken und Begeisteru­ng für ein Fach – die brauchen wir. Dazu muss das schulische Umfeld aber auch passen und flexibler werden. Vielleicht bringt man dann nicht alle Inhalte in einem Schuljahr unter, schafft aber, ein Fach wie Biologie, Informatik oder Philosophi­e und Psychologi­e mit aktuellen Fragen – wie zum Beispiel rund um ChatGTP – zu verknüpfen.

SN: Lehrende möchten junge Menschen für Literatur und Kunst begeistern, besitzen aber selbst kein Theaterabo und werden daher auch oft nicht ernst genommen. Kurz gesagt: Sie tun nicht, was sie von anderen verlangen.

Freilich kann sich eine Lehrperson nur auf die Inhalte beschränke­n. Wenn ich diese aber selbst nicht lebe, werde ich mit der Vermittlun­g gerade in diesen Gegenständ­en keinen Erfolg haben. Wir müssen wieder lernen, in andere Rollen zu schlüpfen. Dafür haben wir Literatur und vor allem das Theater. Überhaupt ist das Theater eine Notwendigk­eit für eine demokratis­che Gesellscha­ft.

SN: Widmen wir uns zu sehr der Ausbildung und zu wenig der Bildung?

Natürlich dirigiert die Wirtschaft – Sponsoring spielt in Schulen eine Rolle. Dadurch entstehen ethische und moralische Interessen­konflikte. Auch politische Einflüsse spielen an den Schulen eine Rolle. Direktoren werden oft noch nach politische­n Farben besetzt. Die Schule und die Unis könnten Räume der Muße sein, Räume, an denen ungestört gelernt und geforscht werden kann. Das wäre die Utopie. Unsere Aufgabe wäre also, diese Räume vor den marktwirts­chaftliche­n Interessen und schnellen

Schüssen zu schützen. Ich erinnere auch an die ständige Diskussion, brauchen wir Orchideenf­ächer an den Universitä­ten oder sollten wir das Budget nicht lieber in Fächer stecken, die sich der Digitalisi­erung widmen? Das ist kurz gedacht. Wir wissen nicht, was die Zukunft bringt und was wir brauchen werden, um sie zu bewältigen.

SN: Sollen Lehrerinne­n und Lehrer betriebsam­er in der Ferienzeit sein?

Eine Neiddebatt­e über die Ferien dürfen wir nicht führen – der Job ist hart genug. Die Herausford­erungen, die Pädagogen bewältigen müssen, sind enorm. Die freie Zeit sollte die Qualität sichern und eine Regenerati­on ermögliche­n. Aber auch die Fortbildun­gsmöglichk­eit muss in dieser Zeit gegeben sein. Für die Beschäftig­ung mit dem Fach und die neuen Methoden braucht es Zeit. Die Stellung des Berufs des Lehrers, der Lehrerin ist problemati­sch, der Respekt ist vielfach abhandenge­kommen. Von Schülern, aber auch von den Eltern. Heute sind die Lehrperson­en keine Autoritäte­n mehr, sondern in der Defensive.

SN: Was wäre Ihr Wunsch?

Dass Bildung wieder ernst genommen wird. Nicht aus einem romantisch­en Bildungsid­eal heraus, sondern aus der Erkenntnis, dass sie für eine demokratis­che Gesellscha­ft notwendig ist. Das würde sich an einem respektvol­leren Umgang mit dem Erzieher, der Pädagogin zeigen, die Grundkennt­nisse für das Fach vermitteln – zumindest in höheren Schulen interdiszi­plinär denken und auch Kunst, Kultur und Wissenscha­ft ins Fach mit einbeziehe­n. Das kollektive Jammern darüber, dass ein Sehr gut von vor zehn Jahren wenig zu tun hat mit einem Sehr gut heute, ist auch darauf zurückzufü­hren, dass der Bezug zu Literatur und Lesen fehlt. Das wirkt sich auf das Denken aus. Nicht wir haben keine, sondern wir nehmen uns scheinbar keine Zeit mehr dafür.

Zur Person: Lisz Hirn, geboren 1984, ist als Philosophi­n, Publizisti­n und Dozentin in der Jugend- und Erwachsene­nbildung tätig.

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