Erotik aus der Apotheke
Viagra – heute so bekannt wie Coca-Cola. Unsere Gesellschaft leidet unter Stress, Leistungsdruck, Übergewicht – und sie wird immer älter. All das stört unser Sexleben. Kein Wunder, dass eine blaue Tablette zu einem Milliardengeschäft wurde.
Eigentlich waren die Forscher des Pharmariesen Pfizer auf der Suche nach einem Mittel gegen Bluthochdruck. Doch die Nebenwirkungen des neuen Arzneistoffs Sildenafil erwiesen sich als wesentlich interessanter und wirtschaftlich lukrativer. Vor allem in den wohlhabenden, westlichen Gesellschaften mit ihrem Leistungsdruck und den Stressfaktoren, aber auch der dort immer älter werdenden Bevölkerung. Vor 25 Jahren, am 27. März 1998, ließen die Prüfer der USArzneimittelbehörde (Food and Drug Administration) die Substanz als Potenzmittel unter dem Namen Viagra zu. Knapp ein halbes Jahr später kamen die blauen, diamantförmigen Pillen auch nach Europa. Feministin Alice Schwarzer war empört, guter Sex habe wenig mit Schwellkörpern zu tun, Frauen hielten überhaupt nichts vom „Gerammel um jeden Preis“, Viagra sei für sie eher ein „Erotikkiller“. Die katholische Kirche bezeichnete – wie erwartet – die durch das neue Mittel erzielten „Erfolge“als „höchst fragwürdigen Fortschritt“. Doch die meisten Männer wussten die neue Standhaftigkeit zu schätzen – und gerade ältere Semester, die bereits mit ihrem Sexleben so gut wie abgeschlossen hatten, erlebten einen zweiten Frühling. Ängste vor dem Verlust ihrer Penetrationsfähigkeit wichen Träumen von nie erlahmender Lendenkraft.
Viagra war etwas vollkommen Neues, es enthielt weder Hormone noch sexuelle Stimulanzien. Sein Siegeszug begann innerhalb kurzer Zeit. „Viagra konkurriert mit Coca-Cola als eine der bekanntesten Marken der Welt“, bemerkte Pharmaexperte Gardiner Harris schon 2003 in der „New York Times“. Zu allen Zeiten der Menschheitsgeschichte hofften Männer auf die segensreiche Hilfe durch Aphrodisiaka – von Austern bis Nashornpulver waren sie jedoch meist nutzlos. „Das Potenzmittel wurde als ebenso revolutionär wie die Antibabypille und als Erfüllung eines Menschheitstraums gefeiert. „Das ,Time Magazine‘ rief mit dem Ausdruck ,Viagra age‘ eine Zeitrechnung vor und nach der Erfindung von Viagra aus“, schreibt Claudia Sontowski in ihrem 2015 erschienenen Buch „Viagra im Alltag“. Der Produktname Viagra ist übrigens ein Kunstwort aus vigor (lateinisch für Kraft) und Niagara (die Wasserfälle), der Name könnte auch vom indischen Wort für Tiger abgeleitet sein.
Der in Viagra enthaltene Stoff Sildenafil gehört zur Gruppe der sogenannten PDE-5-Hemmer. Das sind gefäßerweiternde Substanzen: Der Blutstrom in den Penis steigert sich, die Schwellkörper expandieren. Eine Steigerung der Libido oder gar die Vergrößerung der Penislänge nach der Einnahme von Viagra gehören allerdings ins Reich der Legenden.
Viagra mit Sildenafil war das erste Mittel dieser Wirkstoffklasse,
mittlerweile gibt es auch zahlreiche Generika (Nachahmerpräparate). Die sind billiger und wirken auch – und als 2014 in Europa der Patentschutz für die blaue Pille auslief, rasselten die Umsätze bei Pfizer gehörig in den Keller, man büßte zwischenzeitlich vier Fünftel des Konzerngewinns ein (siehe Grafik).
Bei Viagra setzt die Wirkung nach etwa einer halben Stunde ein und hält bis zu sechs Stunden an. Als Nebenwirkungen können Kopfschmerzen, Gesichtsrötung, Magenbeschwerden, eine verstopfte Nase, erhöhte Lichtempfindlichkeit oder Schwindelgefühle auftreten. Auch von plötzlichen
Seh- und Hörstörungen wird berichtet, Herzkranke müssen sich generell vor allzu großer körperlicher Anstrengung – wie beim Geschlechtsverkehr – in Acht nehmen. Bei Leberoder Niereninsuffizienz darf das Potenzmittel nicht eingenommen werden.
Deshalb wird eine ärztliche Voruntersuchung dringend empfohlen, trotzdem gibt es Viagra in einigen Ländern wie Großbritannien, Polen, Schweden, Norwegen und der Schweiz mittlerweile ohne Rezept. Bereits 2014 hatte Neuseeland die Verschreibungspflicht für Sildenafil-Mittel abgeschafft. Im Internet existieren Plattformen wie Zavamed, über die Patienten Onlineärzte konsultieren und gleichzeitig auch Apothekenprodukte sowie rezeptpflichtige Medikamente
bestellen können, wenn die Anwendung als geeignet eingeschätzt wird.
Weitere Einsatzbereiche für die blauen Pillen finden sich beispielsweise in der Pornoindustrie. Hier müssen Männer allzeit bereit sein, deshalb greift mancher Darsteller ohne Erektionsprobleme zu Viagra. Daneben werden die Tabletten in einschlägigen Clubs auch als Partydroge gehandelt. Einige Frauen fühlen sich aber durch die neue Standfestigkeit ihres Mannes eher bedrängt als lustvoll umworben. Paare beklagen zudem, dass nach der Einnahme wegen des Zeitdrucks häufig die Romantik auf der Strecke bleibt. Weitab vom beabsichtigten Verwendungszweck tut das Medikament sogar etwas für den Artenschutz: Die Jagd auf bedrohte Tiere zwecks Potenzmittelgewinnung ist zurückgegangen. Und auch die Lebensdauer von Schnittblumen lässt sich mit Viagra verlängern. Ein halbes Milligramm im Blumenwasser reicht schon – und sie lassen die Köpfe nicht mehr hängen.
WARUM „ES“NICHT KLAPPT
Allein in Deutschland leiden vier bis sechs Millionen Männer unter Erektionsstörungen. „Überträgt man die Daten auf Österreich, so beträgt die Zahl der Männer, die hierzulande an ED (erektile Dysfunktion) leiden, zwischen 240.000 und 700.000“, sagt der Urologe und Androloge Andreas Jungwirth, Professor an der Wiener Medizinischen Universität.
Noch bis in die 1990er-Jahre wurde vermutet, dass Erektionsstörungen zu 90 Prozent „Kopfsache“seien. Erst allmählich äußerten Mediziner die Vermutung, ein Großteil der Schwierigkeiten könne durchaus auch organisch bedingt sein. Um ernsthafte Krankheiten auszuschließen, sollten Männer bei lang anhaltenden Erektionsstörungen einen Arzt aufsuchen – auch Diabetes, Bluthochdruck oder Arteriosklerose können hinter den Problemen stecken.
„Die Häufigkeit der erektilen Dysfunktion nimmt generell mit dem Lebensalter zu. So beklagt schon jeder vierte Patient unter 40 Jahren Erektionsprobleme, bei 40- bis 70-Jährigen liegt die Quote bei 52 Prozent. Bei Männern über 70 steigt die Zahl auf 70 Prozent an“, so der Wiener Urologe Anton Stangelberger. Einige Experten glauben sogar, Impotenz in höherem Alter sei eine Art Schutzmechanismus des Körpers, um Organe und Kreislauf nicht zu sehr zu beanspruchen. Doch nicht nur das Alter spielt eine Rolle. Studien haben ergeben, dass Übergewicht das Risiko für Erektionsstörungen erhöht. Gerade Fett in der Bauchgegend sorgt dafür, dass der Testosteronspiegel sinkt – und damit auch die Manneskraft nachlässt. Ebenso können Nikotin- und Alkoholmissbrauch Erektionsprobleme auslösen. Bei jüngeren Männern überwiegen psychische Gründe wie Stress, Depressionen oder Versagensängste.