Salzburger Nachrichten

Erotik aus der Apotheke

Viagra – heute so bekannt wie Coca-Cola. Unsere Gesellscha­ft leidet unter Stress, Leistungsd­ruck, Übergewich­t – und sie wird immer älter. All das stört unser Sexleben. Kein Wunder, dass eine blaue Tablette zu einem Milliarden­geschäft wurde.

- MICHAEL OSSENKOPP

Eigentlich waren die Forscher des Pharmaries­en Pfizer auf der Suche nach einem Mittel gegen Bluthochdr­uck. Doch die Nebenwirku­ngen des neuen Arzneistof­fs Sildenafil erwiesen sich als wesentlich interessan­ter und wirtschaft­lich lukrativer. Vor allem in den wohlhabend­en, westlichen Gesellscha­ften mit ihrem Leistungsd­ruck und den Stressfakt­oren, aber auch der dort immer älter werdenden Bevölkerun­g. Vor 25 Jahren, am 27. März 1998, ließen die Prüfer der USArzneimi­ttelbehörd­e (Food and Drug Administra­tion) die Substanz als Potenzmitt­el unter dem Namen Viagra zu. Knapp ein halbes Jahr später kamen die blauen, diamantför­migen Pillen auch nach Europa. Feministin Alice Schwarzer war empört, guter Sex habe wenig mit Schwellkör­pern zu tun, Frauen hielten überhaupt nichts vom „Gerammel um jeden Preis“, Viagra sei für sie eher ein „Erotikkill­er“. Die katholisch­e Kirche bezeichnet­e – wie erwartet – die durch das neue Mittel erzielten „Erfolge“als „höchst fragwürdig­en Fortschrit­t“. Doch die meisten Männer wussten die neue Standhafti­gkeit zu schätzen – und gerade ältere Semester, die bereits mit ihrem Sexleben so gut wie abgeschlos­sen hatten, erlebten einen zweiten Frühling. Ängste vor dem Verlust ihrer Penetratio­nsfähigkei­t wichen Träumen von nie erlahmende­r Lendenkraf­t.

Viagra war etwas vollkommen Neues, es enthielt weder Hormone noch sexuelle Stimulanzi­en. Sein Siegeszug begann innerhalb kurzer Zeit. „Viagra konkurrier­t mit Coca-Cola als eine der bekanntest­en Marken der Welt“, bemerkte Pharmaexpe­rte Gardiner Harris schon 2003 in der „New York Times“. Zu allen Zeiten der Menschheit­sgeschicht­e hofften Männer auf die segensreic­he Hilfe durch Aphrodisia­ka – von Austern bis Nashornpul­ver waren sie jedoch meist nutzlos. „Das Potenzmitt­el wurde als ebenso revolution­är wie die Antibabypi­lle und als Erfüllung eines Menschheit­straums gefeiert. „Das ,Time Magazine‘ rief mit dem Ausdruck ,Viagra age‘ eine Zeitrechnu­ng vor und nach der Erfindung von Viagra aus“, schreibt Claudia Sontowski in ihrem 2015 erschienen­en Buch „Viagra im Alltag“. Der Produktnam­e Viagra ist übrigens ein Kunstwort aus vigor (lateinisch für Kraft) und Niagara (die Wasserfäll­e), der Name könnte auch vom indischen Wort für Tiger abgeleitet sein.

Der in Viagra enthaltene Stoff Sildenafil gehört zur Gruppe der sogenannte­n PDE-5-Hemmer. Das sind gefäßerwei­ternde Substanzen: Der Blutstrom in den Penis steigert sich, die Schwellkör­per expandiere­n. Eine Steigerung der Libido oder gar die Vergrößeru­ng der Penislänge nach der Einnahme von Viagra gehören allerdings ins Reich der Legenden.

Viagra mit Sildenafil war das erste Mittel dieser Wirkstoffk­lasse,

mittlerwei­le gibt es auch zahlreiche Generika (Nachahmerp­räparate). Die sind billiger und wirken auch – und als 2014 in Europa der Patentschu­tz für die blaue Pille auslief, rasselten die Umsätze bei Pfizer gehörig in den Keller, man büßte zwischenze­itlich vier Fünftel des Konzerngew­inns ein (siehe Grafik).

Bei Viagra setzt die Wirkung nach etwa einer halben Stunde ein und hält bis zu sechs Stunden an. Als Nebenwirku­ngen können Kopfschmer­zen, Gesichtsrö­tung, Magenbesch­werden, eine verstopfte Nase, erhöhte Lichtempfi­ndlichkeit oder Schwindelg­efühle auftreten. Auch von plötzliche­n

Seh- und Hörstörung­en wird berichtet, Herzkranke müssen sich generell vor allzu großer körperlich­er Anstrengun­g – wie beim Geschlecht­sverkehr – in Acht nehmen. Bei Leberoder Niereninsu­ffizienz darf das Potenzmitt­el nicht eingenomme­n werden.

Deshalb wird eine ärztliche Voruntersu­chung dringend empfohlen, trotzdem gibt es Viagra in einigen Ländern wie Großbritan­nien, Polen, Schweden, Norwegen und der Schweiz mittlerwei­le ohne Rezept. Bereits 2014 hatte Neuseeland die Verschreib­ungspflich­t für Sildenafil-Mittel abgeschaff­t. Im Internet existieren Plattforme­n wie Zavamed, über die Patienten Onlineärzt­e konsultier­en und gleichzeit­ig auch Apothekenp­rodukte sowie rezeptpfli­chtige Medikament­e

bestellen können, wenn die Anwendung als geeignet eingeschät­zt wird.

Weitere Einsatzber­eiche für die blauen Pillen finden sich beispielsw­eise in der Pornoindus­trie. Hier müssen Männer allzeit bereit sein, deshalb greift mancher Darsteller ohne Erektionsp­robleme zu Viagra. Daneben werden die Tabletten in einschlägi­gen Clubs auch als Partydroge gehandelt. Einige Frauen fühlen sich aber durch die neue Standfesti­gkeit ihres Mannes eher bedrängt als lustvoll umworben. Paare beklagen zudem, dass nach der Einnahme wegen des Zeitdrucks häufig die Romantik auf der Strecke bleibt. Weitab vom beabsichti­gten Verwendung­szweck tut das Medikament sogar etwas für den Artenschut­z: Die Jagd auf bedrohte Tiere zwecks Potenzmitt­elgewinnun­g ist zurückgega­ngen. Und auch die Lebensdaue­r von Schnittblu­men lässt sich mit Viagra verlängern. Ein halbes Milligramm im Blumenwass­er reicht schon – und sie lassen die Köpfe nicht mehr hängen.

WARUM „ES“NICHT KLAPPT

Allein in Deutschlan­d leiden vier bis sechs Millionen Männer unter Erektionss­törungen. „Überträgt man die Daten auf Österreich, so beträgt die Zahl der Männer, die hierzuland­e an ED (erektile Dysfunktio­n) leiden, zwischen 240.000 und 700.000“, sagt der Urologe und Androloge Andreas Jungwirth, Professor an der Wiener Medizinisc­hen Universitä­t.

Noch bis in die 1990er-Jahre wurde vermutet, dass Erektionss­törungen zu 90 Prozent „Kopfsache“seien. Erst allmählich äußerten Mediziner die Vermutung, ein Großteil der Schwierigk­eiten könne durchaus auch organisch bedingt sein. Um ernsthafte Krankheite­n auszuschli­eßen, sollten Männer bei lang anhaltende­n Erektionss­törungen einen Arzt aufsuchen – auch Diabetes, Bluthochdr­uck oder Arterioskl­erose können hinter den Problemen stecken.

„Die Häufigkeit der erektilen Dysfunktio­n nimmt generell mit dem Lebensalte­r zu. So beklagt schon jeder vierte Patient unter 40 Jahren Erektionsp­robleme, bei 40- bis 70-Jährigen liegt die Quote bei 52 Prozent. Bei Männern über 70 steigt die Zahl auf 70 Prozent an“, so der Wiener Urologe Anton Stangelber­ger. Einige Experten glauben sogar, Impotenz in höherem Alter sei eine Art Schutzmech­anismus des Körpers, um Organe und Kreislauf nicht zu sehr zu beanspruch­en. Doch nicht nur das Alter spielt eine Rolle. Studien haben ergeben, dass Übergewich­t das Risiko für Erektionss­törungen erhöht. Gerade Fett in der Bauchgegen­d sorgt dafür, dass der Testostero­nspiegel sinkt – und damit auch die Manneskraf­t nachlässt. Ebenso können Nikotin- und Alkoholmis­sbrauch Erektionsp­robleme auslösen. Bei jüngeren Männern überwiegen psychische Gründe wie Stress, Depression­en oder Versagensä­ngste.

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