Hungrig Erfolgs
Iss was Gscheit’s. Energiedefizit durch zu wenig Nahrungsaufnahme ist eine unterschätzte Gefahr im Leistungssport. Was mit Müdigkeit und übler Laune beginnt, kann sich zu Dauerschäden für die Gesundheit auswachsen.
Für Stefan Pokorny gehört „Gewichtmachen“zum sportlichen Alltag. Der Salzburger Karatekämpfer ist ein Routinier. „Vor Wettkämpfen sieben oder acht Kilo runterzubringen, war nie ein Problem für mich“, erklärt der 31-Jährige. Durch die Beschäftigung mit dem Thema kam er vor einigen Jahren auf die Idee, Intervallfasten auszuprobieren – also nur ab Mittag bis Abend zu essen und dann 16 Stunden lang zu fasten. Das Experiment ging für Pokorny schief: „Nach einer Woche habe ich bemerkt, dass mir im Training total die Kraft und der Speed fehlen“, erinnert er sich. „Irgendetwas hat nicht gepasst.“Er suchte Rat bei Judith Haudum, Sport-Ernährungsberaterin im Olympiazentrum Salzburg und beim ÖSV. Sie riet ihm dringend zum Abbruch des Intervallfastens. „Zum Glück früh genug, so dass ich ohne Schaden rausgekommen bin“, ist Pokorny froh.
Der Kampfsportler war in ein Energiedefizit geraten. Mit einer Essstörung oder Magersucht hat das nichts zu tun. Judith Haudum weiß aus langjähriger Erfahrung: „Die Sportlerinnen und Sportler unterschätzen sehr oft, was sie an Energie benötigen und im Training verbrennen.“Übersteigt der Verbrauch über einen längeren Zeitraum die Zufuhr, kommt es unweigerlich zum Streik des Körpers. Das Relative Energiedefizit-Syndrom im Sport (RED-S) gilt als die am meisten unterschätzte Gefahr im Sport. Ein Drittel, wenn nicht sogar die Hälfte der Aktiven im Leistungssport ist gefährdet. Das Risiko ist besonders in Sportarten mit Gewichtsklassen, im Ausdauersport sowie bei Disziplinen wie Turnen und Gymnastik hoch. Jedoch sind auch Aktive aus Sportarten wie Crossfit, Bodybuilding oder alpinem Skilauf betroffen.
Leistungsabfall wie bei Stefan Pokorny ist nur ein erstes Anzeichen. Oft kommt es zu Ermüdungsbrüchen als Folge verringerter Knochendichte. Verdauungsstörungen sowie Muskel-, Bänder- und Sehnenverletzungen kommen vor. Bei Sportlerinnen kann die
Periode ausbleiben. Auch von psychischen Problemen bis hin zu Depressionen und Suizidgefahr berichten Sportmediziner.
Die deutsche Ärztin und Ex-Profi-Triathletin Lea Sophie Keim hat viele der Symptome selbst durchgemacht. „Ich hatte drei Ermüdungsbrüche innerhalb eines Jahres“, schilderte sie in einem Podcast. Dazu kamen ein Eisenmangel, eine hohe Anfälligkeit für Infekte und ein ausbleibender Monatszyklus. Irritierend war auch ihre niedrige Herzfrequenz mit einem Ruhepuls von 30 Schlägen pro Minute. Um ihre Idealvorstellung von Figur und Gewicht zu erreichen, aß sie viel weniger als nötig: „Ich habe mich aus Unwissenheit mangelhaft ernährt, während ich 15 bis 18 Stunden pro Woche trainiert habe.“Dass ihr Problem RED-S war, war ihr lange nicht klar: „Es gab damals darüber keine Aufklärung für Sportler.“
Dass RED-S oft sehr lange unentdeckt bleibt, liegt auch daran, dass Spezialisten meist nur einen Teil des Problems sehen. Manche Gynäkologen verschreiben dann die Pille. Bei Verdauungsschwierigkeiten wie Blähungen oder Bauchkrämpfen werden von den Betroffenen häufig eher Unverträglichkeiten vermutet. Auch auffällige Blutwerte geben Ärzten schon einmal Rätsel auf, wobei die Lösung nahe, nämlich auf dem Esstisch, liegt. Aufschlussreich kann eine Knochendichtemessung sein. Dieses Verfahren wird normalerweise bei Frauen in der Menopause angewandt, um das Osteoporose-Risiko festzustellen. „Es gibt 25-jährige Radfahrer, die eine Knochendichte wie 50-Jährige aufweisen“, schildert Judith Haudum. So erklären sich dann Knochenbrüche, die auch schon bei leichten Stürzen passieren.
Nicht nur vermeintlicher Zwang zu geringem Körpergewicht kann der Grund für das Energiedefizit sein. Oft ist es auch schlicht fehlendes Wissen. Judith Haudum ist immer wieder entsetzt darüber, wie wenig Kalorien Leistungssportler mitunter zu sich nehmen: „Das fängt oft schon beim Frühstück an, das zu klein ausfällt. Dann kommt ein intensives Training, bei dem man nur Wasser zu sich nimmt. Damit baut sich ein Defizit auf, dass im restlichen Tag nicht mehr aufzuholen ist.“Oft wird noch nach dem Verzicht aus Heißhunger am Abend kräftig „reingeschaufelt“– entsprechend schlecht fällt der Schlaf aus. Geht das über einen längeren Zeitraum so, steigt die Gefahr anhaltender Schäden für den Körper, weil er sich für viele Stunden in einem Defizit befindet.
Wenn der „Motor“auf Vollbetrieb laufen soll, braucht er auch entsprechend mehr Treibstoff. Als Richtwert für eine ausreichende Energieverfügbarkeit gelten mindestens 30 Kalorien pro Kilogramm fettfreier Masse pro Tag. Manche Sportlerinnen und Sportler liegen unter 30, was als kritischer Wert besehen wird. In diesem niedrigen Bereich ist mit gesundheitlichen Konsequenzen zu rechnen. Der Ernährungsexpertin ist wichtig, dass es nicht nur um die Quantität, sondern auch um die Qualität geht: „Manche nehmen eine zweite Portion Salat. Aber es geht im Sport auch darum, vom Richtigen viel zu essen.“Außerdem ein typischer Fehler:
Kohlenhydrate werden am Abend weggelassen, am Morgen danach sind die Speicher leer und der Körper hat auch nicht ausreichend Energie bekommen.
Karateka Stefan Pokorny hat in seiner missglückten Experimentierphase Erstaunliches festgestellt: „Ich habe trotz des Fastens nicht ab-, sondern zugenommen.“Judith Haudum erklärt dieses Phänomen: „Der Körper reagiert auf die verminderte Energiezufuhr und begibt sich in einen Sparmodus. Manche Sportlerinnen und Sportler lagern Wasser ein und auch der Fettanteil ist bei RED-S oft höher als bei gesunden Aktiven. Deshalb geht die Waage nach oben.“
Lange Zeit galt RED-S als rein weibliches Phänomen. Deshalb war ursprünglich von „Female Athlete Triade“die Rede. Judith Haudum erklärt: „Ein Merkmal, das Ausbleiben der Menstruationsblutung, ist bei Männern nicht vorhanden. Sie sind nicht so anfällig für ein Kaloriendefizit und erholen sich auch schneller davon. Aber sie können durchaus auch betroffen sein.“
Und es sind nicht nur Profisportler, die in ein gefährliches Energiedefizit schlittern können. Bei ambitionierten Freizeitathleten kommen noch weitere Herausforderungen dazu, wie Judith Haudum schildert: „Der Beruf lässt einem wenig Zeit, also bringt man eine Trainingseinheit in der Mittagspause unter und lässt das Essen weg.“
Um das Problem in den Griff zu kriegen, rät sie betroffenen Sportlern, sich erst einmal aus Wettkämpfen herauszunehmen und das Trainingspensum zu reduzieren, bis sich der Körper von dem Syndrom wieder erholt hat: „Dabei gilt es, die Energiezufuhr stufenweise anzupassen.“Erfolgserlebnisse scheinen dann nicht nur in Ergebnislisten auf, sondern bestehen auch schon einmal darin, dass eine Sportlerin nach langer Pause wieder einen Monatszyklus hat.
Konflikte mit Trainern gehören für die Ernährungsexpertin bei ihrem Kampf gegen das Energiedefizit auch dazu: „Nachvollziehbar, denn der Betreuer sieht vor allem die Leistung. Aber man darf nie vergessen: Die Sportlerinnen und Sportler haben nachher auch noch ein Leben.“
Viele Sportler unterschätzen ihren Energiebedarf.
Judith Haudum Sport-Ernährungsberaterin