Zu Gast bei vielen Völkern
Timișoara – Europäische Kulturhauptstadt 2023. Die Multikulti-Vielfalt der drittgrößten Stadt Rumäniens erkundet man am besten zu Fuß.
Timișoara im Westen Rumäniens ist – neben Elefsina in Griechenland und Veszprém in Ungarn – die zweite der drei europäischen Kulturhauptstädte 2023, die wir vorstellen möchten. Bis zum Ende des Ersten Weltkriegs Teil der Habsburgermonarchie, steht die multikulturelle Tradition der Stadt im Mittelpunkt. Nach der Eröffnung im Februar bilden die City Celebration vom 1. bis zum 3. September und die symbolische Abschlussveranstaltung vom 16. bis zum 19. Dezember den Rahmen für ein Jahr mit Hunderten von kulturellen Veranstaltungen.
Das Motto „Shine your light – light up your city“verspricht Vielfalt pur – von Tanzvorführungen in Hinterhöfen über Sound-Installationen in Synagogen bis hin zu Theatervorstellungen in Kirchen und Open-Air-Konzerten an zentralen Plätzen und in den Parks am Ufer des BegaKanals. Timișoara will sich 2023 als weltoffene Stadt präsentieren, in der unterschiedlichste Menschen und Kulturen friedlich zusammenleben. In der drittgrößten Stadt Rumäniens – sie hat über 300.000 Einwohner – gibt es gleich drei Staatstheater: ein rumänisches, ein ungarisches und ein deutsches. Auch serbische Traditionen sind hier stark vertreten, zeigen sich in serbisch-orthodoxen Kirchen ebenso wie in zahlreichen serbischen Restaurants.
Timișoara oder Temeswar ist bislang kein Magnet für Städtetouristen. Ein wenig zu Unrecht, bei der Fülle an Kulturobjekten. Hier finden sich mehr als 10.000 denkmalgeschützte Gebäude, aus Barock und Secession sowie Jugendstil, drei große Plätze, die zum Besichtigen, Flanieren und Dinieren einladen, großzügige Parkanlagen und moderne Shoppingmalls, Revolutions-, Freilicht- und Kunstmuseen, alternative Kultur- und Theaterprojekte und Reste einer alten Festungsanlage.
Neben der Altstadt, dem Stadtteil Cetate, samt Dom, orthodoxer Kirche, Opernhaus, Hunyadi-Schloss und Dikasterialpalast sind auch die außerhalb gelegenen Stadtteile sehenswert: die Fabrikstadt, die Josefstadt oder die Elisabethstadt. Für dieses Jahr haben die Tourguides der Stadt thematisch orientierte Stadtrundgänge ausgearbeitet, darunter Stadtführungen zu Street-Art und zur Secessionsarchitektur.
Ludovic Satmari, der diese Touren konzipierte, bietet mit seinen geführten Stadtspaziergängen einen idealen Einstieg in die Stadt, die schon seit Jahrhunderten überaus multikulturell geprägt ist. Sein Rundgang durch die Altstadt beginnt am Schloss Hunyadi, das von den Ungarn Anfang des 14. Jahrhunderts erbaut wurde. Später geriet die Region unter osmanische Herrschaft, und Timișoara und das Banat waren über 150 Jahre lang türkische Provinz. Als Prinz Eugen die Stadt 1716 für die Österreicher zurückeroberte, wurde sie komplett neu aufgebaut. Es entstand eine neue, quadratisch angelegte Stadt, doch es fehlte an Bewohnern. Also beschlossen die Habsburger, katholische Siedler hierherzubringen. Viele davon aus Süd- und Südwestdeutschland, die meisten reisten per Boot über die Donau an. Von 1718 bis 1785 gab es drei große Einwanderungswellen – sodass sich die Bevölkerungsstruktur der Region massiv veränderte. „Vor dem Ersten Weltkrieg hatten wir hier etwa vierzig Prozent Deutsche und vierzig Prozent Rumänen, dazu kamen Serben, Ungarn, Juden, Roma und andere Gruppen“, erläutert Ludovic Setmari.
Beim Anblick der prachtvollen Häuser und Stadtpaläste in der Cetate, insbesondere am Domplatz, am Freiheitsplatz und am Siegesplatz, lässt sich ahnen, warum Timișoara auch Klein-Wien genannt wird. Doch wenn man vom Siegesplatz den Corso oder die gegenüberliegende Straße, den Surrogat, entlanggeht, wird schnell wieder bewusst, dass das hier Rumänien ist: Am Ende der beiden Boulevards ragen die Türme einer orthodoxen Kirche gen Himmel, der Kathedrale der Heiligen drei Hierarchen.
Während die Innenstadt weitgehend autofrei ist und viele Häuser renoviert, gestrichen und herausgeputzt sind, wirkt die Fabrikstadt derzeit noch wie die hässliche Schwester. Zwar gibt es auch hier prachtvolle Jugendstilgebäude, doch ihr Zustand lässt oft zu wünschen übrig. Ludovic Setmari beginnt seinen Rundgang durch die Fabrikstadt am Trajanplatz, entworfen von k. u. k. Militäringenieuren im Jahr 1740 nach dem Vorbild der Piata Unirii, des Einheits- oder Domplatzes im Stadtzentrum. Hier beeindrucken der Merkurpalast, kurz nach dem Jahr 1900 im Stil der Secession erbaut, das Mirbach-Haus aus dem Jahr 1904 und die orthodoxe Sankt-Georgs-Kirche. Die übermannshohe steinerne Glocke mitten auf dem Platz erinnert als Freiheitsglocke an die Revolution im Jahr 1989. Die begann in Rumänien nämlich nicht in der Hauptstadt Bukarest, sondern hier in Timișoara.
Über die Strada Dacilor, die auf einer Brücke über die Bega führt, geht es zur Piata Badea Cârtan und einen der größten Märkte der Stadt, zu Bergen von Paprika und Sauerkraut, aber auch Tomaten, Gurken, Weintrauben, Wassermelonen und Melanzani.
In Timișoara verbinden insgesamt 14 Brücken das Nordufer der Bega mit dem Südufer. Tipp für die Kleinen: Im Kinderpark, dem Parcul Copiilor, zwischen Michelangelo- und Decebal-Brücke finden sich Karussells, Spielplätze und zahlreiche kindgerechte Themenwelten. An Ständen werden Popcorn, Zuckerwatte, frisch gepresster Orangensaft, Eis und Kaffee verkauft. Blumenfreunde spazieren lieber zum Parcul Rozelor, dem Rosenpark. Dieser wurde, wie alle Parks an der Bega, nach der Schleifung der Festungsanlagen angelegt. Sein jetziges Aussehen mit Rundbeeten, Rosenspalieren und Promenadenwegen erhielt er erst im Jahr 2011. Das jährliche Opern- und Operettenfestival, zwischen August und September, sowie das Folklorefestival Inimilor im Juni nutzen die Open-Air-Bühne im Park als Traumkulisse – und während des Kulturhauptstadtjahrs gibt es dort auch noch viele weitere Aktivitäten.