Vom Boxtraining an die Front
Der Boxclub Gruscha in Moskau wirkt unscheinbar. Doch von hier aus rekrutiert die Wagner-Gruppe neue Soldaten.
Bis zum Gruscha führt eine eisglatte Treppe hinunter. Hinten in der Halle wärmen sich Männer für ihr Boxtraining am Morgen auf. Gruscha ist ein Boxclub nicht weit von Russlands Regierungssitz entfernt. Bis zu neun Mal am Tag wird hier trainiert, die Ersten beginnen um sieben Uhr morgens, nachmittags lernen Kinder Thai- und Kickboxen. Der Hinterhofclub ist so unscheinbar wie monströs.
Vor wenigen Tagen hat WagnerChef Jewgeni Prigoschin neue Rekrutierungszentren in 42 russischen Städten ins Leben gerufen. Seine Söldner gelten als die brutalsten Kämpfer in Putins „Spezialoperation“in der Ukraine. Als Schlächter, die ihr Chef auch in Strafkolonien quer durchs Land anwarb. Im Gegenzug gab es Straferlass. Es ist eine
Art Freifahrtschein Prigoschins. Mit den Gefangenen in der Ukraine dürfen die Soldaten alles tun, soll der Wagner-Chef im Gefängnis von Tscheljabinsk gesagt haben: „Foltern, erniedrigen, Kehle durchschneiden – ist mir alles egal.“Wer von seinen Kämpfern „falsch abbiege“, der werde an Ort und Stelle erschossen. Nicht wenige von den russischen Häftlingen nutzen den Kampf als Chance, dem eigenen trostlosen Dasein in Russlands streng hierarchisch organisiertem Strafvollzug zu entkommen.
Die „Wagnerowzy“, wie sie in Russland genannt werden, dringen immer weiter ins Zentrum der hart umkämpften ukrainischen Stadt Bachmut ein. Die hohen Verluste spielen für Prigoschin keine Rolle. Hinter den Gefängnismauern hatte es sich allerdings schnell herumgesprochen, wie erbarmungslos die neuen Wagner-Soldaten verheizt würden. Die Zahl der Freiwilligen aus den Strafkolonien nahm stetig ab. Prigoschin verkündete daraufhin eine „vollständige Einstellung“seiner Anwerbung unter Russlands Verurteilten – und gleichzeitig eine neue Strategie. Nun sucht er in
Wohnsiedlungen, gar an Schulen und in Sportclubs wie Gruscha.
„Ja, wir vermitteln die künftigen Kämpfer an die richtige Stelle“, sagt die Empfangsdame. Sie reicht ein pinkes Blatt Papier. „Schreiben Sie“, sagt sie und diktiert eine Telefonnummer. Auskünfte würden nur telefonisch erteilt, mehr könne sie nicht sagen. Wortkarg sind auch die breitschultrigen Männer, die sich ihre Bandagen um die Hände wickeln. „Draußen bei den Mülltonnen ist der Empfang viel besser“, ruft die Empfangsdame hinterher.
Am Telefon meldet sich Igor, geradezu zuvorkommend. Er erklärt: Der künftige Kämpfer müsse sich persönlich vorstellen, gleich neben dem Club könne er sich beweisen. Der Boxclub befindet sich im selben Gebäude wie die städtische Ausbildungsund Beratungsstelle für Zivilschutz und Notfälle. Die rot gestrichene Metalltür ist zu. Sprechzeiten seien dienstags und donnerstags, steht auf einer Plakette.
Igor versichert, er komme auch zu Wunschzeiten des „Bewerbers“vorbei und „begutachte“ihn. Die Mindestvoraussetzung: 50 Liegestütze. „Wenn Sie bereit sind für die Front und ich mein Okay gebe, könnten Sie heute schon los. Wir besorgen das Zugticket.“Es werde in die Region Krasnodar gehen, in den Süden Russlands, zum dreiwöchigen Trainingscamp, sagt Igor.
Für das Training gebe es 40.000 Rubel, knapp 500 Euro, später einen Monatsverdienst von 240.000 Rubel, in etwa 3000 Euro. Für russische Einkommensverhältnisse ist das viel Geld. „Also Pass mitbringen und in guter Verfassung sein“, rät Igor. „Es wird sicher alles gut gehen.“Unten im Club hauen die Männer gegen die Boxbirnen.