Entspannung in der Ägäis
Noch vor wenigen Wochen drohte der türkische Staatschef Erdoğan mit Raketen auf Athen. Warum sich die beiden zerstrittenen Nachbarn plötzlich annähern.
Am Samstag feierten die Menschen in Griechenland ihren Nationalfeiertag. Sie gedachten des Befreiungskrieges gegen die türkischen Besatzer, der am 25. März 1821 begann. In diesem Jahr bekam der griechische Premier Kyriakos Mitsotakis unerwartet Post aus Ankara. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan gratulierte ihm und dem griechischen Volk. „Ich bin überzeugt, dass die Beziehungen und die Zusammenarbeit unserer beiden Länder sich mit unseren gemeinsamen Bemühungen in Zukunft weiterentwickeln werden“, schrieb Erdoğan.
Vor Kurzem hörte man noch ganz andere Töne aus Ankara. Unverhohlen drohte Erdoğan den Nachbarn mit einer Invasion: „Wir können plötzlich eines Nachts kommen.“Auch das persönliche Verhältnis zu Mitsotakis war zerrüttet, seit der griechische Premier im vergangenen Mai in einer Rede vor dem Kongress in Washington die USA indirekt vor der Lieferung von Kampfflugzeugen an die Türkei warnte. Erdoğan sagte danach über Mitsotakis: „Er existiert für mich nicht mehr. Ich werde ihn nie wieder treffen.“
Jetzt klingt die Rhetorik anders. Und auch am Himmel über der Ägäis, wo sich türkische und griechische Kampfpiloten seit Jahren riskante Verfolgungsjagden liefern, ist Entspannung eingekehrt. Im Jänner verletzten türkische Kampfflugzeuge
238 Mal den von Griechenland beanspruchten Luftraum. Im Februar gab es nur 43 solcher Zwischenfälle, im März ging die Zahl weiter zurück. Im Jänner flogen türkische Militärpiloten 23 Mal über griechische Ägäis-Inseln – im Februar und März kein einziges Mal.
Bis vor Kurzem gab es in Athen die Sorge, Erdoğan werde im Vorfeld der Parlaments- und Präsidentschaftswahlen, die Mitte Mai stattfinden sollen, die Spannungen mit Griechenland schüren, um Stärke zu zeigen und nationalistische
Wähler für sich zu gewinnen. Manche EU-Diplomaten befürchteten gar, Erdoğan könnte im Wahlkampf einen militärischen Konflikt mit Griechenland provozieren, um von den wirtschaftlichen Schwierigkeiten im eigenen Land abzulenken.
Umso überraschender kommt nun die plötzliche Entspannung.
Sie ist vor allem der schweren Erdbebenkatastrophe geschuldet, die Anfang Februar über den Südosten der Türkei hereinbrach. Als eine der ersten ausländischen Nationen schickte Griechenland Rettungsmannschaften. Erdoğan hat offenbar erkannt: Hasstiraden gegen Griechenland passen jetzt nicht mehr in die Zeit, sie nützen ihm im Wahlkampf nicht. Erinnerungen an das Jahr 1999 werden wach. Auch damals führten zwei Erdbeben in der Türkei und Griechenland zu einer Welle der Hilfsbereitschaft in beiden Ländern und einer politischen Annäherung. Man sprach damals von „Erdbebendiplomatie“.
Auch der griechische Außenminister Nikos Dendias bekam am Samstag einen Brief von seinem türkischen Kollegen Mevlüt Çavuşoğlu. Nach der handschriftlichen Anrede „Dear Nikos“bedankte sich Çavuşoğlu „für die Solidarität und die Hilfe, die das griechische Volk und die Regierung nach der Bebenkatastrophe gezeigt haben“. Çavuşoğlu schrieb, er sei „entschlossen, weitere Beiträge zum gegenwärtigen positiven Trend in unseren Beziehungen zu leisten“.
In einem Interview stellte Dendias am Wochenende fest: „Es gibt keine Luftraumverletzungen mehr in der Ägäis, keine vergiftete Rhetorik und keine Drohung mit Gewalt.“Griechenland habe nun die Pflicht, die „zur Verständigung ausgestreckte Hand zu ergreifen“.
Ob die Annäherung von Dauer ist, weiß niemand. Erst einmal wird in beiden Ländern gewählt: Mitte Mai in der Türkei, voraussichtlich Ende Mai in Griechenland. Danach könnte der Weg frei werden für eine neue Ära in den Beziehungen der beiden schwierigen Nachbarn.