Kunstwerk oder Ärgernis?
Graffiti an Hausmauern und U-Bahn-Zügen richten in Wien jährlich Millionenschäden an. Die Sprayer sind nur schwer zu kriegen.
Chefinspektor Herbert Landauf legt einen Stapel Fotos – großformatig ausgedruckt – vor sich auf den Tisch. Es sind sogenannte Screenshots von Überwachungskameras. Sie zeigen wild bemalte U-Bahn-Waggons, maskierte Personen und jede Menge sichergestellte Spraydosen. Landauf leitet die Abteilung Eigentumsdelikte im Bundeskriminalamt. Und da fällt auch jegliche Art von Graffiti darunter, egal, wie kunstvoll oder unkreativordinär das Sprayen im öffentlichen Raum auch sein mag. „Es ist nicht unsere Aufgabe, zu bewerten, ob das schön ist oder nicht“, stellt Landauf klar. Ausschließlich die Paragrafen 125 (Sachbeschädigung) und 126 (schwere Sachbeschädigung) des Strafgesetzbuchs sind von Belang.
Von 58.000 bundesweit angezeigten Sachbeschädigungen im Jahr 2022 waren 9000 Graffiti. Davon stammten 3500 aus Wien. Was die Tendenz betrifft, sagt Landauf: „Es ist mehr geworden. Aber angezeigte und tatsächliche Fälle korrelieren nicht.“Er nennt als Beispiel die Wiener Gemeindebauten. „Es werden quasi keine Anzeigen erstattet.“Auf SN-Anfrage heißt es seitens Wiener Wohnen, zuständig für 220.000 Gemeindewohnungen: „Im Durchschnitt werden rund 70.000 Euro pro Jahr für die Entfernung von illegalen Graffiti ausgegeben. Wobei wir den Fokus bei der Entfernung von illegalen Graffiti auf sexistische oder rassistische Inhalte legen.“Bei der enormen Anzahl an Gemeindebauten scheint das Übermalen zu teuer und obendrein sinnlos. Zu schnell prangen neu gesprayte Geschlechtsteile oder wüstes Gekritzel auf den Hausmauern.
„Vieles geschieht aus Frust, Langeweile oder weil jemand Aufmerksamkeit möchte. Gruppendynamik ist ebenfalls ein Faktor. Es reicht von politisch motivierten Sprüchen über klassische Symbole wie ACAB, was für ,All cops are bastards‘ steht“, erklärt Landauf. Großen Anteil an der unerwünschten Stadtbemalung haben auch die Fangruppen der Fußballclubs Austria und Rapid, die sich an manchen Stellen fast schon duellieren würden. „Da vergehen oft nur Stunden, bis ein FAK
von einem SCR übermalt wird. Oder umgekehrt.“Die Gefahr: „Wenn einer wo hinschmiert, schmieren die anderen dazu, dann liegt plötzlich Mist dort, bald darauf Matratzen – so ein Ort verslumt ein bisserl.“
Deutlich heikler ist die Situation bei den Wiener Linien. Denn öffentliche Verkehrsmittel zählen zur kritischen Infrastruktur. „Wenn da markierte Hebepunkte an Waggons übermalt werden, dürfen sie nicht fahren.“Die Folgen: Materialausfall und hohe Kosten. „Der Gesamtschaden bewegt sich pro Jahr zwischen zwei und drei Millionen Euro“, sagt Sprecherin Katharina Steinwendtner. „Jeder Fall wird zur Anzeige gebracht und der Schaden in Rechnung gestellt – rund zehn bis 15 Fälle landen pro Jahr vor Gericht.“Die Aufklärungsquote liegt laut Chefinspektor Landauf bei „knapp zehn Prozent“. Das ist nicht einmal so wenig, wenn man bedenkt, wie schwer die Täter zu fassen sind. „Professionelle Sprayer treten immer in Gruppen auf. Und sie stammen aus allen Teilen der Welt. Somit ist es auch schwer, zivilrechtliche Verfahren zu führen.“Diese „bunt zusammengewürfelten Partien“seien ausgezeichnet organisiert, es gebe „Schmieresteher“, die Aktionen seien minutiös vorbereitet. Selbst großflächige Graffiti an U-Bahn-Zügen dauerten kaum eine Minute.
Als Ermittler müsse man überaus wachsam sein, um Sprayer überführen zu können. „Manchmal gibt es einen DNA-Treffer auf einer zurückgelassenen Dose. Oder es fällt jemand mit Kleidung auf, die typische Farbflecken aufweist.“Gemeinsam mit der TU Wien hat das Bundeskriminalamt ein Analyseprogramm entwickelt, das – nach dem Prinzip der Gesichtserkennung
– die „Handschrift“von Sprayern wiedererkennt.
Die Stadt Wien versucht seit Jahren, der Graffitiszene Raum zu geben, in dem sie sich völlig legal austoben kann. An 23 Orten sind Graffiti nicht nur erlaubt, sondern ausdrücklich erwünscht. So konnte etwa der kaum zu ertragenden Tristesse des Donaukanals Einhalt geboten werden. Auf mehreren Kilometern reiht sich eine Farbexplosion an die andere. Wie eine gigantische, luzide Bildergalerie werten die Bemalungen die grauen Kaimauern und Brückenpfeiler auf. Es bedarf keiner Anmeldung, um zu praktisch jeder Tages- und Nachtzeit – in Ruhe – seiner Graffitileidenschaft zu frönen.
Jemanden, der den Nervenkitzel sucht, wird man am Donaukanal jedoch nicht antreffen. Landauf: „Viele filmen ihre Aktionen und stellen sie ins Netz.“In bildhafter Erinnerung blieb bei dem Ermittler eine Gruppe, die sich „Berlin Kidz“nannte. „Die haben sich an Rauchfängen eingehängt und von Hausdächern abgeseilt, um ihre gesprayten Werke in möglichst luftiger Höhe zu vollenden. Sie wollen ja, dass man sieht, was sie geschaffen haben – es geht um Bewunderung und Anerkennung.“