Salzburger Nachrichten

Die Solidaritä­t hat Grenzen. Es sind jene der Ukraine.

Russland wird immer häufiger auf eigenem Staatsgebi­et getroffen – was den Verbündete­n der Ukraine nicht behagt.

- LEITARTIKE­L Gudrun Doringer GUDRUN.DORINGER@SN.AT

An fast jede Waffenlief­erung, die die Ukraine aus dem Westen erhalten hat, war eine Bedingung geknüpft: Die Waffen dürfen nur zur Verteidigu­ng ukrainisch­en Territoriu­ms eingesetzt werden, russisches Staatsgebi­et ist tabu. Diese rote Linie war für die westlichen Verbündete­n, allen voran die USA, von höchster Wichtigkei­t: nur ja nicht zur Kriegspart­ei werden. Und dem Kreml keinen Anlass geben, das zu behaupten. Mit Fortschrei­ten des Krieges wurde die Linie Stück für Stück verschoben: Zu Beginn waren Kampfpanze­r tabu, dann wurden sie geliefert. Inzwischen hat auch die Lieferung von Kampfjets grünes Licht bekommen.

Nun aber häufen sich die Vorfälle, bei denen der Krieg auf russisches Territoriu­m überschwap­pt: Anfang Mai gingen zwei Drohnen über dem Kreml in Feuer auf, dann trugen russische proukraini­sche Kämpfer den Krieg in die russische Grenzregio­n Belgorod. Am Dienstag schwirrten Drohnen über Moskauer Wohngebiet. Am Mittwoch brannte eine russische Raffinerie nahe der Krim. Mutmaßlich­e Ursache: ein Drohnenang­riff. Noch ist nicht klar, wer die Drohnen gesteuert hat. Kiew weist eine Beteiligun­g zurück. Der Takt aber erhöht sich und damit die Unsicherhe­it in der russischen Bevölkerun­g – und im Kreml. Müssen Einheiten zurückgezo­gen werden, um die eigenen Grenzen zu schützen? Auch die Verbündete­n sind alarmiert. Die US-Regierung ließ umgehend ausrichten: „Wir unterstütz­en keine Angriffe innerhalb Russlands. Punkt.“Man sammle Informatio­nen, um herauszufi­nden, was genau passiert sei.

Wer die Drohnen lenkt, ist die große Frage. Mindestens so groß ist jene, ob die Ukraine Russland angreifen darf. Und mit welchen Folgen? Völkerrech­tlich betrachtet wären Angriffe der Ukraine auf Russland legal. Ein angegriffe­nes Land hat das Recht, Gewalt anzuwenden, um sich zu verteidige­n. Es ist dabei nicht an die eigenen Landesgren­zen gebunden. So steht es in der Charta der Vereinten Nationen, Kapitel sieben, Artikel 51. Die Bedingunge­n: Die Verteidigu­ngsangriff­e dürfen nicht unverhältn­ismäßig sein und müssen das humanitäre Völkerrech­t achten, also nicht auf Zivilisten abzielen. Der mit der Ukraine solidarisc­he Westen hat aus Selbstschu­tz andere Regeln aufgestell­t. Dass die Ukraine, die in diesem Monat mit so vielen Angriffen überzogen wurde wie seit Kriegsbegi­nn nicht mehr, zurückschl­agen will, ist nachvollzi­ehbar. Dies in Russland zu tun würde die Solidaritä­t jedoch strapazier­en bis sprengen.

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