Erziehen wir unsere Kinder zu Narzissten?
Eine Psychotherapeutin erklärt, warum viele Eltern aus ihren Kindern Prinzen/Prinzessinnen machen – und wie man rechtzeitig gegensteuert.
Helene Drexler ist promovierte Psychologin und seit 1989 als Psychotherapeutin tätig. In ihrem neuen Buch stellt sie die These auf, dass viele Eltern selbst einen Anteil hätten, wenn aus ihren Kindern Narzisstinnen bzw. Narzissten werden.
Sie behaupten, dass immer mehr Eltern ihre Kinder zu kleinen Narzissten erziehen. Wie kommen Sie zu dem Befund?
SN:
Helene Drexler: Da gibt es zwei Hintergründe. Das eine ist meine Erfahrung in knapp 35 Jahren als Psychotherapeutin. Da bemerke ich seit etwa 15 Jahren, dass viele Eltern zunehmend klagen, dass sie Angst haben, dass ihre Kinder nicht den richtigen Platz finden im Leben und im sozialen Umfeld nicht zurechtkommen. Das beginnt schon im Kindergarten, wo sie ständig in Konflikte verwickelt sind. In der Schule klagen immer mehr Lehrer, dass viele Kinder nicht mitmachen wollen und sozial auffällig sind. Was den Eltern besonders Sorgen bereitet, ist, dass ihre Kinder nicht lange in Jobs bleiben, weil sie bald selbst gekündigt haben oder gekündigt wurden, weil sie mit den Regeln in der Firma nicht zurechtkamen. Das ist auch etwas, das mir Manager aus Firmen schildern, mit denen ich arbeite; dass sich Junge oft nicht mehr so gut integrieren können. Der andere Hintergrund ist: Es gibt Forschungen dazu, dass narzisstische Störungen häufiger werden, wie zum Beispiel aus einer Publikation von Veronika Job von der Uni Zürich (2022) hervorgeht.
SN: Warum sind diese sozialen Anpassungsprobleme gleich als Narzissmus zu werten?
Weil die Kinder heutzutage von vielen Eltern sehr, sehr – um nicht zu sagen: übermäßig – gut betreut werden. Nach der erniedrigenden und strafenden Erziehung früherer Jahre schlägt hier das Pendel in die andere Richtung aus. Die Kinder werden sehr verwöhnt. Die Eltern wollen, dass sie nur das Beste erleben – und keine Grenzen erleben müssen. Aber: In dieser Übertriebenheit nistet sich immer auch ein Zweifel ein. Denn die Kinder merken später in der Schule, dass sie nicht immer die Besten sind und nicht alle anderen Kinder automatisch mit ihnen spielen wollen – weil diese nicht so begeistert von ihnen sind wie die eigenen Eltern. Da kommt der Zweifel auf: Bin ich wirklich so toll? Dieser Zweifel ist der Motor für Narziss
mus. Denn Narzissmus besteht sowohl aus dem Gehypt-Werden als auch aus dem eigenen Zweifel. Diesen Zwiespalt braucht es. Wenn jemand immer nur abgewertet wird, entsteht kein Narzissmus. Zweifel kann sich auch darin zeigen, dass Eltern nach Scheidungen Kinder zum Partnerersatz machen. Dadurch wird das Kind überhöht; es spürt aber gleichzeitig, dass es dieser Rolle nicht gerecht werden kann. Diese Kombination ist fatal, weil so ein junger Mensch lernt: Ich bin etwas wert und habe Bedeutung. Gleichzeitig muss er diese Bedeutung vor dem Zweifel schützen und bläht daher seinen Selbstwert übergroß auf. Das vergleiche ich immer mit einem Ballon, der sehr fragil und gefährdet ist. Darum muss der Narzisst alles tun, damit niemand dem Ballon etwas antut, weil dazu schon die sprichwörtliche Stecknadel reicht in Form von Infragestellung oder Kritik. Daher halten narzisstische Menschen andere, auch Partner/-innen, emotional eher fern, auch wenn sie gesellig sind, damit niemand ihr Ego angreift. Um Kritiker schachmatt zu setzen, verfügen narzisstische Menschen über ein großes Repertoire an Schutzmechanismen.
Was muss man als Elternteil machen, damit die Erziehung – wohl meist unbewusst – in diese Richtung geht? In Ihrem Buch präsentieren Sie ja eine durchaus ironisch gemeinte Checkliste dazu.
SN:
Ja. Die Liste geht so: Erstens sollte man sein Kind auf ein Podest stellen. Zweitens, man sollte dem Kind keine Grenzen setzen. Drittens sollte man nach der Pfeife des Kindes tanzen. Viertens gibt es den Faktor Überlegenheit. Zeigen Sie dem Kind: Unsere Familie ist die beste! Punkt fünf ist eine selektive Wahrnehmung, die die Eltern dazu bringt zu glauben: Alles ist wunderbar, das Kind ist perfekt und hat keine Schwächen. Alles, was nicht in dieses Bild passt, wird ausgelöscht. Punkt sechs ist die kleine Prise Zweifel.
SN: Wie können Eltern, die sich bei Ihrer Checkliste wiedererkennen, hier bewusst gegensteuern?
Es braucht ein ständiges Hinschauen auf und Wahrnehmen des Kindes. Damit man das Kind nicht nach den eigenen Bedürfnissen erzieht, also: Will ich einen Sängerknaben aus ihm oder eine Spitzensportlerin aus ihr machen? Sondern man sollte schauen, wie die Persönlichkeit des Kindes ist, und es so leiten und begleiten, wie es ihm entspricht. Dazu gehört, Dinge zu ermöglichen und zu fördern. Aber es gehört auch das kritische Feedback dazu, das von vielen Eltern heutzutage sehr gescheut wird, weil es schnell als Grenzüberschreitung gesehen wird. Ein besonderes Dilemma ist, siehe Punkt vier, wenn sich Eltern selbst nicht hinterfragen und sich bei ihrer Meinung, ihrem Lebensstil und ihrer eigenen Sichtweise auf die Welt samt ihren Privilegien so sicher sind. Eine Möglichkeit ist, dass man dennoch auch Inputs von außen ernst nimmt – wie Inputs von Lehrern oder Freunden. Da könnte man hellhörig werden, wenn etwa Kinder immer wieder Konflikte mit anderen Kindern haben und man dann in diesem Kontext auch die Rolle des eigenen Kindes hinterfragt. Dazu gehört aber auch Mut als Eltern.