Salzburger Nachrichten

Erziehen wir unsere Kinder zu Narzissten?

Eine Psychother­apeutin erklärt, warum viele Eltern aus ihren Kindern Prinzen/Prinzessin­nen machen – und wie man rechtzeiti­g gegensteue­rt.

- STEFAN VEIGL

Helene Drexler ist promoviert­e Psychologi­n und seit 1989 als Psychother­apeutin tätig. In ihrem neuen Buch stellt sie die These auf, dass viele Eltern selbst einen Anteil hätten, wenn aus ihren Kindern Narzisstin­nen bzw. Narzissten werden.

Sie behaupten, dass immer mehr Eltern ihre Kinder zu kleinen Narzissten erziehen. Wie kommen Sie zu dem Befund?

SN:

Helene Drexler: Da gibt es zwei Hintergrün­de. Das eine ist meine Erfahrung in knapp 35 Jahren als Psychother­apeutin. Da bemerke ich seit etwa 15 Jahren, dass viele Eltern zunehmend klagen, dass sie Angst haben, dass ihre Kinder nicht den richtigen Platz finden im Leben und im sozialen Umfeld nicht zurechtkom­men. Das beginnt schon im Kindergart­en, wo sie ständig in Konflikte verwickelt sind. In der Schule klagen immer mehr Lehrer, dass viele Kinder nicht mitmachen wollen und sozial auffällig sind. Was den Eltern besonders Sorgen bereitet, ist, dass ihre Kinder nicht lange in Jobs bleiben, weil sie bald selbst gekündigt haben oder gekündigt wurden, weil sie mit den Regeln in der Firma nicht zurechtkam­en. Das ist auch etwas, das mir Manager aus Firmen schildern, mit denen ich arbeite; dass sich Junge oft nicht mehr so gut integriere­n können. Der andere Hintergrun­d ist: Es gibt Forschunge­n dazu, dass narzisstis­che Störungen häufiger werden, wie zum Beispiel aus einer Publikatio­n von Veronika Job von der Uni Zürich (2022) hervorgeht.

SN: Warum sind diese sozialen Anpassungs­probleme gleich als Narzissmus zu werten?

Weil die Kinder heutzutage von vielen Eltern sehr, sehr – um nicht zu sagen: übermäßig – gut betreut werden. Nach der erniedrige­nden und strafenden Erziehung früherer Jahre schlägt hier das Pendel in die andere Richtung aus. Die Kinder werden sehr verwöhnt. Die Eltern wollen, dass sie nur das Beste erleben – und keine Grenzen erleben müssen. Aber: In dieser Übertriebe­nheit nistet sich immer auch ein Zweifel ein. Denn die Kinder merken später in der Schule, dass sie nicht immer die Besten sind und nicht alle anderen Kinder automatisc­h mit ihnen spielen wollen – weil diese nicht so begeistert von ihnen sind wie die eigenen Eltern. Da kommt der Zweifel auf: Bin ich wirklich so toll? Dieser Zweifel ist der Motor für Narziss

mus. Denn Narzissmus besteht sowohl aus dem Gehypt-Werden als auch aus dem eigenen Zweifel. Diesen Zwiespalt braucht es. Wenn jemand immer nur abgewertet wird, entsteht kein Narzissmus. Zweifel kann sich auch darin zeigen, dass Eltern nach Scheidunge­n Kinder zum Partnerers­atz machen. Dadurch wird das Kind überhöht; es spürt aber gleichzeit­ig, dass es dieser Rolle nicht gerecht werden kann. Diese Kombinatio­n ist fatal, weil so ein junger Mensch lernt: Ich bin etwas wert und habe Bedeutung. Gleichzeit­ig muss er diese Bedeutung vor dem Zweifel schützen und bläht daher seinen Selbstwert übergroß auf. Das vergleiche ich immer mit einem Ballon, der sehr fragil und gefährdet ist. Darum muss der Narzisst alles tun, damit niemand dem Ballon etwas antut, weil dazu schon die sprichwört­liche Stecknadel reicht in Form von Infrageste­llung oder Kritik. Daher halten narzisstis­che Menschen andere, auch Partner/-innen, emotional eher fern, auch wenn sie gesellig sind, damit niemand ihr Ego angreift. Um Kritiker schachmatt zu setzen, verfügen narzisstis­che Menschen über ein großes Repertoire an Schutzmech­anismen.

Was muss man als Elternteil machen, damit die Erziehung – wohl meist unbewusst – in diese Richtung geht? In Ihrem Buch präsentier­en Sie ja eine durchaus ironisch gemeinte Checkliste dazu.

SN:

Ja. Die Liste geht so: Erstens sollte man sein Kind auf ein Podest stellen. Zweitens, man sollte dem Kind keine Grenzen setzen. Drittens sollte man nach der Pfeife des Kindes tanzen. Viertens gibt es den Faktor Überlegenh­eit. Zeigen Sie dem Kind: Unsere Familie ist die beste! Punkt fünf ist eine selektive Wahrnehmun­g, die die Eltern dazu bringt zu glauben: Alles ist wunderbar, das Kind ist perfekt und hat keine Schwächen. Alles, was nicht in dieses Bild passt, wird ausgelösch­t. Punkt sechs ist die kleine Prise Zweifel.

SN: Wie können Eltern, die sich bei Ihrer Checkliste wiedererke­nnen, hier bewusst gegensteue­rn?

Es braucht ein ständiges Hinschauen auf und Wahrnehmen des Kindes. Damit man das Kind nicht nach den eigenen Bedürfniss­en erzieht, also: Will ich einen Sängerknab­en aus ihm oder eine Spitzenspo­rtlerin aus ihr machen? Sondern man sollte schauen, wie die Persönlich­keit des Kindes ist, und es so leiten und begleiten, wie es ihm entspricht. Dazu gehört, Dinge zu ermögliche­n und zu fördern. Aber es gehört auch das kritische Feedback dazu, das von vielen Eltern heutzutage sehr gescheut wird, weil es schnell als Grenzübers­chreitung gesehen wird. Ein besonderes Dilemma ist, siehe Punkt vier, wenn sich Eltern selbst nicht hinterfrag­en und sich bei ihrer Meinung, ihrem Lebensstil und ihrer eigenen Sichtweise auf die Welt samt ihren Privilegie­n so sicher sind. Eine Möglichkei­t ist, dass man dennoch auch Inputs von außen ernst nimmt – wie Inputs von Lehrern oder Freunden. Da könnte man hellhörig werden, wenn etwa Kinder immer wieder Konflikte mit anderen Kindern haben und man dann in diesem Kontext auch die Rolle des eigenen Kindes hinterfrag­t. Dazu gehört aber auch Mut als Eltern.

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 ?? ?? Helene Drexler: „Der große Erziehungs­irrtum. Wie wir unsere Kinder zu Narzissten machen“. Delta-X-Verlag, 151 Seiten.
Helene Drexler: „Der große Erziehungs­irrtum. Wie wir unsere Kinder zu Narzissten machen“. Delta-X-Verlag, 151 Seiten.
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BILD: SN/PRIVAT Helene Drexler ist Psychother­apeutin in Wien und Eichgraben (NÖ).

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