Salzburger Nachrichten

„Wer gegen Antisemiti­smus ist, regiert nicht mit der FPÖ“

Kann man auf der Straße derzeit Kippa tragen? Warum sind Antirassis­ten plötzlich Antisemite­n? Und: Warum ist der Kampf gegen Judenhass nicht immer ernst gemeint?

- MARIAN SMETANA

Der Wiener Jurist Bini Guttmann ist Jugendvert­reter im Jüdischen Weltkongre­ss und spricht im SN-Interview über „explodiere­nden Antisemiti­smus“seit dem Angriff der Hamas auf Israel, Judenfeind­lichkeit unter der jungen TikTok-Generation, die FPÖ und Greta Thunberg.

SN: Würden Sie derzeit mit der jüdischen Kopfbedeck­ung, der Kippa, durch Wien laufen?

Bini Guttmann: Ich schon, weil ich das Privileg habe, körperlich groß gebaut zu sein. Und ich bin noch nicht an dem Punkt angelangt, an dem ich mir das sichtbare jüdische Leben nehmen lassen würde. Aber ich kenne viele, die sich das nicht trauen. Wir erleben derzeit laufend Übergriffe. Beschimpfu­ngen, Bedrohunge­n, Spuckattac­ken. Grundsätzl­ich gehören Bedrohungs­lagen zu unserer Lebensreal­ität, die jüdische Schule schaut aus wie ein Gefängnis und nicht wie eine Schule. Es gibt dort neben Feueralarm­auch Terroralar­mübungen. Aber seit dem Angriff auf Israel ist die Lage vollkommen eskaliert.

SN: Inwiefern?

Es hat in Europa eine Explosion an Antisemiti­smus gegeben. Und das auch in einer jungen Generation, die säkular aufgewachs­en ist und mit dem Nahostkonf­likt bisher nichts zu tun hatte. Viele waren der Meinung, dass die Lage für Jüdinnen und Juden in Europa immer besser wird. Jetzt passiert das Gegenteil. Dieser Trend hat sich schon in der Pandemie, in der antisemiti­sche Verschwöru­ngserzählu­ngen floriert haben, abgezeichn­et.

SN: Was kann dagegen getan werden?

Mir fehlt es ein wenig an Solidaritä­t. Es gab das Lichtermee­r, das war ein schönes Zeichen. Aber es geht auch darum, im Alltag aufzustehe­n, wenn Antisemiti­smus geschieht. Es geht um ein sicheres Leben von Jüdinnen und Juden in Europa genauso wie für alle anderen Bürger, und dafür sollte man einstehen, völlig unabhängig davon, was man über die Situation im Nahen Osten oder die israelisch­e Regierung denkt.

SN: Wieso fällt derzeit auch eine junge Generation aus einem progressiv­en Milieu auf antisemiti­sche Feindbilde­r herein? Zuletzt sorgte Klimaaktiv­istin Greta Thunberg mit Aussagen für Wirbel.

Das ist bitter, weil sich viele junge Jüdinnen und Juden in progressiv­en zivilgesel­lschaftlic­hen Bewegungen bisher zu Hause gefühlt haben, um etwa gegen Rassismus aufzustehe­n. Nun haben sie in diesen Gruppen keinen Platz mehr und das nur, weil sie Juden sind und die Existenz Israels nicht infrage stellen.

SN: Welche Rolle spielen soziale Medien dabei?

Wir sehen eine Radikalisi­erung von jungen Menschen, die sich mit dem Nahostkonf­likt zwar historisch noch nicht beschäftig­t, aber ein paar einseitige Instagram-Storys und TikTok-Videos gesehen haben. Und dann passiert es, dass Menschen, die wenig Wissen, aber extrem viel Meinung haben, ihre Reichweite missbrauch­en, um sich auf die „richtige“Seite zu stellen, also auf die Seite, die im Moment auch unter den jungen Menschen in Mode ist, und das ist nicht die Seite von Israel. Das ist bei Greta Thunberg wohl auch so, sie kennt sich in der Klimakrise gut aus, hat aber keine Ahnung vom Nahostkonf­likt oder Antisemiti­smus. Und dann kommt noch ein weiterer Wesenszug des Antisemiti­smus hinzu, der diesen Trend befeuert.

SN: Welcher?

Was den Antisemiti­smus unter anderem vom Rassismus unterschei­det und Mitgrund dafür ist, dass auch in linken, eigentlich antirassis­tischen Kreisen der Antisemiti­smus aufkommt, ist, dass im Rassismus imaginiert nach unten getreten wird, gegen jemanden, der aufgrund seiner Herkunft, Religion oder Hautfarbe als angeblich schwächer angesehen wird. Im Antisemiti­smus ist es umgekehrt. Dort wird gegen jemand angeblich Bessergest­ellten getreten. Wir kennen alle die Stereotype vom reichen Juden und die Verschwöru­ngsmythen von der jüdischen Weltregier­ung.

SN: Es gibt derzeit eine Debatte darüber, in der es, zugespitzt gesagt, darum geht, welche Form von Judenfeind­lichkeit das größere Problem ist – von rechts, von links oder von muslimisch­en Zuwanderer­n importiert. Was stimmt?

Diese Debatte hören wir ganz oft. Antisemite­n sind immer die anderen. Viele sehen im Kampf gegen den Judenhass immer nur, was sie sehen wollen. Die Wahrheit ist: Es gibt in Österreich kaum einen gesellscha­ftlichen Raum, der gänzlich frei von Judenfeind­lichkeit ist.

SN: Kommen wir aber zu dem Kippa-Beispiel zurück. Ist es nicht so, dass Sie damit wohl eher durch den ersten Bezirk gehen können als durch Wien-Favoriten, wo es einen hohen Migrations­anteil gibt?

Das mag sein. Aber durch ein Dorf am Land zu gehen, in dem es einen hohen FPÖ-Wählerante­il gibt, stell ich mir auch nicht leicht vor. Dass wir in den Städten derzeit besonders ein Problem mit dem muslimisch­en Antisemiti­smus auf der Straße haben, steht wohl außer Frage und wurde auch von liberaler Seite lange ignoriert. Aber wir dürfen auch den Rechtsextr­emismus nicht übersehen. Rechtsextr­emer und islamistis­cher Antisemiti­smus haben beide das Ziel, Juden auszulösch­en. Ob ein Neonazi eine Synagoge angreift, wie im deutschen Halle, oder ein Islamist, wie in Paris, ist im Ergebnis egal. Wer das nicht sieht, der meint den Kampf gegen Antisemiti­smus nicht ernst, sondern missbrauch­t ihn immer nur für die eigene politische Agenda.

SN: Auf welche Art?

Ich komme wieder auf die Kippa zurück: Ich kann damit tatsächlic­h eher durch den ersten als durch den zehnten Bezirk gehen. Aber ich muss fürchten, dass rechtsextr­eme Antisemite­n wieder in den Ministerie­n sitzen. Die FPÖ war und ist derzeit in Regierunge­n mit der ÖVP, die sich den Kampf gegen den Judenhass auf die Fahnen schreibt. Aber wer gegen Antisemiti­smus ist, regiert nicht mit der FPÖ. Als sie in der Bundesregi­erung war, nicht einmal zwei Jahre lang, haben wir über sechzig judenfeind­liche Vorfälle in der FPÖ gehabt. Sie ist eine strukturel­l antisemiti­sche Partei.

Zur Person:

 ?? ??
 ?? ?? Bini Guttmann ist Jurist, sitzt im Exekutivra­t des World Jewish Congress und ist Ex-Präsident der Europäisch­en Union Jüdischer Studierend­er (EUJS).
Bini Guttmann ist Jurist, sitzt im Exekutivra­t des World Jewish Congress und ist Ex-Präsident der Europäisch­en Union Jüdischer Studierend­er (EUJS).

Newspapers in German

Newspapers from Austria