Salzburger Nachrichten

Das neue Gesicht Argentinie­ns

Am Sonntag wählt das südamerika­nische Land in einer Stichwahl seinen Präsidente­n. Zu den wirtschaft­lichen Problemen entfacht einer der Kandidaten nun auch noch einen Kulturkamp­f.

- KLAUS EHRINGFELD

In der U-Bahn von Buenos Aires kann man dieser Tage leicht auf Ana Fernández treffen. Dorthin hat die 46-Jährige den Wahlkampf getragen, ihren ganz persönlich­en. Ohne eine Partei im Rücken kämpft sie gegen Javier Milei, den ultrarecht­en Präsidents­chaftsbewe­rber, der am Sonntag in der Stichwahl gegen Sergio Massa um das Präsidente­namt steht. Und so steht Fernández in der Linie A und erzählt vor den Passagiere­n ihre Geschichte und von ihrer Angst um die Zukunft ihres Landes.

„Ich entschuldi­ge mich bei allen, ich habe das noch nie gemacht, aber mache es, weil ich sehr besorgt bin. Ich wurde in Schweden geboren, als in Argentinie­n eine Diktatur herrschte“, erzählt Fernández. Und nach diesen Worten kommen viele Passagiere aus der Lethargie, schauen von ihren Telefonen auf. „Meine Mutter war 16 Jahre alt, als sie entführt wurde und mit mir schwanger war. Sie kam in ein Konzentrat­ionslager, wo man ihr alles nahm, sogar ihren Namen, sie wurde zu einem Buchstaben und einer Nummer.“

Vier Monate später wurde die Mutter freigelass­en und ging nach Schweden ins Exil, wo Ana Fernández zur Welt kam. Ihre Eltern beschlosse­n, nach Argentinie­n zurückzuke­hren, als das Land 1983

die Demokratie wiedererla­ngte und Präsident Raúl Alfonsín die Schergen der Diktatur vor Gericht stellen ließ. 1192 Menschen wurden verurteilt, 19 Verfahren laufen noch.

Die Geschichte von Fernández ist eine von Zehntausen­den ähnlichen in Argentinie­n, wo von 1976 bis 1983 eine Militärdik­tatur herrschte. Opfer und Angehörige, aber auch Täter melden sich jetzt nach der Rückkehr zur Demokratie wieder zu Wort. Auch Javier Milei und seine Kandidatin für das Vizepräsid­entenamt, Victoria Villarruel.

Beide haben einen Kulturkamp­f um das richtige Gedenken ausgerufen. Beide führen eine Kampagne

der Negation und Relativier­ung. Milei stellte die Zahl der Opfer infrage und behauptete ohne jeden Beweis, es seien während der Militärher­rschaft 8753 Menschen getötet worden und nicht 30.000. Und die 48jährige Villarruel, Enkelin, Tochter und Nichte von hohen Militärs und Tätern in der Diktatur, behauptet, der Staat habe damals einen „notwendige­n Krieg“gegen die Subversion und die linken Rebellen der „Montoneros“geführt.

Heute ist hingegen breiter Konsens in der argentinis­chen Gesellscha­ft, dass der Staat systematis­ch rund 30.000 Opposition­elle ermorden oder verschwind­en ließ. Die

Zahl ergibt sich aus Erhebungen der Nationalen Verschwund­enen-Kommission Conadep und Daten des militärisc­hen Geheimdien­stes, der bereits 1978 von 22.000 Opfern ausging. Selbst rechte Kräfte haben das bisher weitgehend anerkannt.

Aber vor allem die 48-jährige Villarruel agitiert massiv gegen den Konsens. Sie soll im Falle eines Wahlsiegs von Milei für Polizei und Militär und die öffentlich­e Ordnung zuständig sein. Und genau das macht Menschen wie der U-Bahn-Aktivistin Ana Fernández Angst. Für die 46-Jährige ist durch die Leugnung der Verbrechen der Diktatur der Konsens der argentinis­chen Gesellscha­ft bedroht und auch die Gefahr einer Wiederholu­ng des Grauens gegeben.

„Ich will keine Gewalt für meine Kinder, ich will, dass wir alle unsere unterschie­dliche Meinung ausspreche­n können und keine Angst haben müssen, entführt, gefoltert oder lebendig ins Meer geworfen zu werden. Bitte, um der Demokratie willen, wählen Sie nicht Milei“, schließt sie ihren Appell.

Und auf manchen der Fahrten ihres ganz persönlich­en Wahlkampfs brandet anschließe­nd unter den Passagiere­n Applaus auf.

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Massa-Unterstütz­er überkleben ein Plakat des Kontrahent­en Javier Milei.

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