Wer weiß schon, wie wir wirklich sind?
Das Taschenopernfestival stellt Fragen, die nicht nur auf TikTok und Instagram aktuell sind.
Kennen Sie Pierre? Oder glauben Sie bloß, ihn zu kennen? „Du weißt nicht, wer er ist!“, singt Sopranistin Mimi Doulton ein bisschen vorwurfsvoll in Richtung Publikum. Davor hat sie in höchsten Tönen die Eigenschaften des (Un-) Bekannten gepriesen: Seinen Witz. Seinen Charme. Seine Intelligenz.
Die Sätze stammen aus einem berühmt gewordenen Projekt der französischen Künstlerin Sophie Calle. Als sie in Paris das Adressbuch eines gewissen Pierre D. fand, kopierte sie sich alle Seiten, bevor sie es ihm zurückschickte – und bat seine darin verzeichneten Freunde um eine Charakterisierung seiner Person. Ihr Werk als Kunst-Stalkerin veröffentlichte sie in einer Zeitung.
In den fünf Mini-Musikdramen, die an diesem Samstag beim Salzburger
Taschenopernfestival ihre Uraufführung feiern, tauchen Sophie Calle und Pierre D. immer wieder auf. Sie stehen für den einen Pol im dramaturgischen Spannungsfeld, das der Verein Klang 21 den Komponistinnen und Komponisten für ihre Auftragswerke vorgab.
Für den anderen steht Max Beckmann, der sich als Maler Hunderte Male selbst porträtierte. Beckmann habe sich als Mensch also aus der Innensicht charakterisiert, Calle habe eine extreme Außenperspektive gewählt, um dem Wesen einer Persönlichkeit auf die Spur zu kommen, erzählt Regisseur Thierry Bruehl am Rande der Hauptprobe. Beide aber seien auch Symbole für Fragen, die in einer Ära der TikTokSelbstdarstellungen und Instagram-Filter hochaktuell seien: „Bin ich, wer ich zu sein scheine? Was macht einen Menschen aus?“
Zum rhetorischen Showdown zwischen den beiden Extremen kommt es in Alvaro Carlevaros „Spiegelungen“, einem Theater mit Musik (Libretto: Hans-Peter Jahn), in dem „Tatort“-Kommissar Daniel Sträßer den glühenden Verteidiger von Calle spielt und Michael Günther
als Beckmann-Verfechter sein Innerstes nach außen kehrt.
Kompakt ist nicht nur das Format der je 20-minütigen Taschenopern, kompakt sind auch die Besetzungen: Mimi Doulton hat Cello und Schlagwerk aus den Reihen des Österreichischen Ensembles für Neue Musik (oenm) als Dialogpartner, im Beitrag „Olivero’s Schafe“von Oxana Omelchuk trifft Sopran Sachika
Ito auf Schauspieler Klaus Nicola Holderbaum. Und in Julia Mihálys „Souris“suchen Hasti Molavian, Christian Sturm und Sixto Tovar Auswege aus dem philosophischen Spiegelkabinett von Identitätsfragen und Echtheitsdilemmas: Kann man Authentizität darstellen? Und inszenieren? Das Trio gibt die Frage weiter: „Möchten Sie glauben, dass wir echt sind?“
Regisseur Bruehl und Lichtdesigner Hubert Schwaiger widerstehen der Versuchung, eine Scheinrealität mit vielen Kulissen herzustellen. Auf der eigentlichen Bühne sitzen die Musikerinnen und Musiker des oenm, das die fünf individuellen Kompositionshandschriften souverän zum Klingen bringt. Das Dirigierpult (abwechselnd besetzt vom musikalischen Leiter Peter Rundel und Teilnehmenden der Young Conductors Academy) ist seitlich vor der ersten Sitzreihe positioniert. Dazwischen tut sich ein großer Spielraum für die Akteurinnen und Akteure auf, den Bruehl und Schwaiger mit detaillierter Lichtregie und sparsamen Requisiten ausfüllen, auch in Stephan Winklers „Zumutung“, in dem die jungen Salzburger Sängerinnen Alisa Rotthaler und Annalena Huber auftreten. Das Taschenopernfestival feiert heuer seine zehnte Ausgabe. Dass den Uraufführungen eine aktuelle Gesellschaftsfrage zugrunde liegt, ist ebenfalls nicht das erste Mal: „Von Anfang an ging es uns bei Klang 21 um die Frage: ,Wie viel Realität verträgt das zeitgenössische Musiktheater?‘“, sagt Thierry Bruehl.
„Möchten Sie glauben, dass wir echt sind?“
Termine: Taschenopernfestival, „Ich mag Max Beckmann … Sophie Calle und andere“, Premiere Samstag, 19. 11., Salzburg, Szene, Termine bis 21. 11.