Alles Leinwand in Marseille
Willkommen im lebendigsten Open-Air-Museum der Welt. Ausgerechnet im ältesten Viertel von Marseille gibt es ständig wechselnde Street Art zu sehen. Hier darf jeder Hand anlegen und sich zumindest kurzfristig verwirklichen. Viele Wände sind nicht mehr frei
ie Stufen hinauf zum Cours Julien sind ein wildes Farbgewitter in Rot, Blau und Rosa. Mit süßem Patriotismus hat das nichts zu tun. Die Idee hatte Yannick Martin. Besser bekannt als Wha-T. „Es ist eine Reminiszenz an das Vichy-Karo“, erklärte er der Zeitung „La Marseillaise“. Er war der Anführer des Kollektivs, welches sechs Nächte lang 500 Liter Farbe auf der Escalier Julien aufgetragen hat. Mit dabei waren auch Rodolphe, Ayakan, Pauline, Niko, Hugh, Camille und Basile – um nur einige zu nennen. Die Stadtverwaltung ist stolz auf ihre Jugend. Sie ließ bereits verlautbaren, dass 2024 auf der Stiege ein Tanzfestival stattfinden wird.
Diese Stiege steht heute in jedem Reiseführer. Die Touristen pilgern in Scharen dorthin. Der Anblick ist surreal. Die ältesten Viertel von Marseille zeigen die coolsten Graffitis. Kein Wunder, dass die Fußball-Legende Eric Cantona heute Abend noch im Espace Julien auftritt. Neuerdings singt er nämlich auch noch. Der Auftritt scheint ihm gutzutun. Er hat ein bisschen Wodka getrunken, als er auf der Bühne des Espace Julien, eines kleinen Jugendstiltheaters, das von außen wegen all der Graffitis kaum mehr als solches zu erkennen ist, über seine Kindheit auf dem Hügel des Cours Julien erzählt. „Ich lief hier so oft wie möglich rauf“, sagt er. Denn er habe damals schon gewusst, was er alles nicht brauche. Und er habe vor allem bereits gewusst, was er brauche: „Meine Ruhe“, sagt er und schließt die Augen. Die habe er nur dort oben gefunden, wenn er auf die quirlige Stadt hinunterblicken konnte.
Das Viertel Cours Julien zählt zu den ältesten Vierteln Marseilles. Der gleichnamige Platz dort oben besteht zu gut einem Viertel aus einer künstlich angelegten Wasserfläche mit einem Springbrunnen. Rundherum befinden sich kleine Galerien, Restaurants und Cafés. Auch hier sind die altehrwürdigen Fassaden mit großflächigen Wandmalereien verziert. Diese heißen weltweit Murals. Dann gibt es noch Pochoirs, also Schablonen-Graffitis. Gleich um die Ecke begrüßt uns ein stark idealisierter Che Guevara. Gegenüber befindet sich eine in knalligem Gelb bemalte Fassade, die mit dem Porträt einer zauberhaft schönen Afrikanerin veredelt wurde. Ein halber Liter tadelloser Rotwein kostet in der Bar, die eine zeitgemäße Form des „Nachtcafés“von Van Gogh darstellt, zehn Euro. Der Garçon quittiert das ungläubige Staunen seiner Gäste mit einem: „C’est bon marché. C’est pas Paris. Ici! C’est Marseille.“Kurz zuvor hat Cantona im Espace Julien noch sein vorletztes Lied angestimmt: „Du kannst hier oder dort sein. Oder wo auch immer du willst. Auf den Stufen oder sonst wo. Du kannst dein Auto lieben. Oder etwas Ähnliches. Oder starre einfach in den Himmel. Ist mir egal. ICH will DICH sehen! ICH will DICH sehen.“
Bei jedem DICH zeigte er auf einen Besucher im Publikum. Das wiederholte er so oft, dass sich am Ende jeder Besucher angesprochen fühlte.
Draußen ist es nach dem Konzert am späten Novemberabend immer noch angenehm mild. Ein zarter Windhauch weht vom Meer herauf. Wir spazieren rüber ins Viertel Le Panier, wo wir dem Lauf einer kleinen Straße folgen, die schon vor 2500 Jahren angelegt wurde. „Von den Phokäern“, sagt wiederum Arnaud. Seit der Street-Art-Künstler von der Tourismus-Plattform France.fr vorgestellt wurde, ist er auch außerhalb der Szene bekannt. „Street Art hat in den 1980er-Jahren mit dem Aufkommen der Hip-Hop-Kultur und der Entstehung einer von IAM und Fonky Family dominierten Kunstszene auch in Marseille Fuß gefasst“, erzählt er. Seine Werke signiert er mit dem Pseudonym „Asha“. Bekannt wurde er deshalb, weil er um 13 Euro pro Person Rundgänge durch das Viertel anbietet, bei denen er die Hintergründe der jeweiligen Motive erläutert. Das ist sein selbst auferlegter Bildungsauftrag. Eines Morgens hörte er durch das offene Fenster, was ein paar Leute über sein Mural an der Außenfassade quasselten. „Das war so Unsinn – ich musste was tun.“
Der Panier-Hügel in der Nachbarschaft zum Cours Julien gilt als Mekka der Graffiti-Kunst von Marseille. Arnaud erklärt die „Flops“, also die runden und gebogenen Buchstaben, die durch diese Technik selbst zu einer neuen Stilfigur werden. Viele Flächen sind nicht mehr frei. Die Graffiti-Künstler machen aus der Not eine Tugend. Sie denken basisdemokratisch. Vielen Bildern werden andere hinzugefügt, die mit dem Original kommunizieren. „So wie hier. Dieses verliebte und sich zärtlich küssende Paar steht eigentlich für sich. Aber Nhobi fiel auf, dass ein Engel mit Amors Pfeil dem Paar noch etwas liebevoll Humorvolles hinzufügen kann.“
Man nennt große Wände in Marseille, die die Pseudonyme mehrerer Künstler tragen, inzwischen selbstbewusst „Hall of Fame“. „Wall of Fame“wäre treffender. Man kann sich als Betrachter auch selbst ins Bild einfügen. Das offene auf ein grünes Holztor gemalte Herz etwa wird links und rechts von Engelsflügeln flankiert. Daneben ist ein Totenkopf zu sehen. Aus dem Schädel sprießen frische Blätter. Oben links lockt ein schönes Gesicht. Jetzt ist die Zeit, sich lebendig zu fühlen.
Auf dem Place de Lenche wiederum macht schon von Weitem eine geheimnisvolle Figur auf sich aufmerksam. Sie hält schützend ihre Hand unter ein Gitter, das wiederum nicht gemalt, sondern aus Eisen ist. Diesmal ist das riesige Herz blau. Und der Totenschädel hat Teufelshörner. „Seek 313“, sagt Arnaud und deutet auf ein Werk, auf dem der Alte Hafen, Notre-Dame de la Garde sowie eine freche Möwe und Sardinenfischer zu sehen sind. Er scheint gleich aus seinem bunten Boot springen zu wollen. Von hier aus kann man wieder das Meer sehen. Die Deutschen haben 1941 die Südseite weggesprengt, um freie Sicht auf den Hafen zu haben.
„Der Blick auf das Meer ist schön“, sagt Arnaud. „Aber die Wand fehlt uns natürlich heute.“