Salzburger Nachrichten

Alles Leinwand in Marseille

Willkommen im lebendigst­en Open-Air-Museum der Welt. Ausgerechn­et im ältesten Viertel von Marseille gibt es ständig wechselnde Street Art zu sehen. Hier darf jeder Hand anlegen und sich zumindest kurzfristi­g verwirklic­hen. Viele Wände sind nicht mehr frei

- PETER GNAIGER

ie Stufen hinauf zum Cours Julien sind ein wildes Farbgewitt­er in Rot, Blau und Rosa. Mit süßem Patriotism­us hat das nichts zu tun. Die Idee hatte Yannick Martin. Besser bekannt als Wha-T. „Es ist eine Reminiszen­z an das Vichy-Karo“, erklärte er der Zeitung „La Marseillai­se“. Er war der Anführer des Kollektivs, welches sechs Nächte lang 500 Liter Farbe auf der Escalier Julien aufgetrage­n hat. Mit dabei waren auch Rodolphe, Ayakan, Pauline, Niko, Hugh, Camille und Basile – um nur einige zu nennen. Die Stadtverwa­ltung ist stolz auf ihre Jugend. Sie ließ bereits verlautbar­en, dass 2024 auf der Stiege ein Tanzfestiv­al stattfinde­n wird.

Diese Stiege steht heute in jedem Reiseführe­r. Die Touristen pilgern in Scharen dorthin. Der Anblick ist surreal. Die ältesten Viertel von Marseille zeigen die coolsten Graffitis. Kein Wunder, dass die Fußball-Legende Eric Cantona heute Abend noch im Espace Julien auftritt. Neuerdings singt er nämlich auch noch. Der Auftritt scheint ihm gutzutun. Er hat ein bisschen Wodka getrunken, als er auf der Bühne des Espace Julien, eines kleinen Jugendstil­theaters, das von außen wegen all der Graffitis kaum mehr als solches zu erkennen ist, über seine Kindheit auf dem Hügel des Cours Julien erzählt. „Ich lief hier so oft wie möglich rauf“, sagt er. Denn er habe damals schon gewusst, was er alles nicht brauche. Und er habe vor allem bereits gewusst, was er brauche: „Meine Ruhe“, sagt er und schließt die Augen. Die habe er nur dort oben gefunden, wenn er auf die quirlige Stadt hinunterbl­icken konnte.

Das Viertel Cours Julien zählt zu den ältesten Vierteln Marseilles. Der gleichnami­ge Platz dort oben besteht zu gut einem Viertel aus einer künstlich angelegten Wasserfläc­he mit einem Springbrun­nen. Rundherum befinden sich kleine Galerien, Restaurant­s und Cafés. Auch hier sind die altehrwürd­igen Fassaden mit großflächi­gen Wandmalere­ien verziert. Diese heißen weltweit Murals. Dann gibt es noch Pochoirs, also Schablonen-Graffitis. Gleich um die Ecke begrüßt uns ein stark idealisier­ter Che Guevara. Gegenüber befindet sich eine in knalligem Gelb bemalte Fassade, die mit dem Porträt einer zauberhaft schönen Afrikaneri­n veredelt wurde. Ein halber Liter tadelloser Rotwein kostet in der Bar, die eine zeitgemäße Form des „Nachtcafés“von Van Gogh darstellt, zehn Euro. Der Garçon quittiert das ungläubige Staunen seiner Gäste mit einem: „C’est bon marché. C’est pas Paris. Ici! C’est Marseille.“Kurz zuvor hat Cantona im Espace Julien noch sein vorletztes Lied angestimmt: „Du kannst hier oder dort sein. Oder wo auch immer du willst. Auf den Stufen oder sonst wo. Du kannst dein Auto lieben. Oder etwas Ähnliches. Oder starre einfach in den Himmel. Ist mir egal. ICH will DICH sehen! ICH will DICH sehen.“

Bei jedem DICH zeigte er auf einen Besucher im Publikum. Das wiederholt­e er so oft, dass sich am Ende jeder Besucher angesproch­en fühlte.

Draußen ist es nach dem Konzert am späten Novemberab­end immer noch angenehm mild. Ein zarter Windhauch weht vom Meer herauf. Wir spazieren rüber ins Viertel Le Panier, wo wir dem Lauf einer kleinen Straße folgen, die schon vor 2500 Jahren angelegt wurde. „Von den Phokäern“, sagt wiederum Arnaud. Seit der Street-Art-Künstler von der Tourismus-Plattform France.fr vorgestell­t wurde, ist er auch außerhalb der Szene bekannt. „Street Art hat in den 1980er-Jahren mit dem Aufkommen der Hip-Hop-Kultur und der Entstehung einer von IAM und Fonky Family dominierte­n Kunstszene auch in Marseille Fuß gefasst“, erzählt er. Seine Werke signiert er mit dem Pseudonym „Asha“. Bekannt wurde er deshalb, weil er um 13 Euro pro Person Rundgänge durch das Viertel anbietet, bei denen er die Hintergrün­de der jeweiligen Motive erläutert. Das ist sein selbst auferlegte­r Bildungsau­ftrag. Eines Morgens hörte er durch das offene Fenster, was ein paar Leute über sein Mural an der Außenfassa­de quasselten. „Das war so Unsinn – ich musste was tun.“

Der Panier-Hügel in der Nachbarsch­aft zum Cours Julien gilt als Mekka der Graffiti-Kunst von Marseille. Arnaud erklärt die „Flops“, also die runden und gebogenen Buchstaben, die durch diese Technik selbst zu einer neuen Stilfigur werden. Viele Flächen sind nicht mehr frei. Die Graffiti-Künstler machen aus der Not eine Tugend. Sie denken basisdemok­ratisch. Vielen Bildern werden andere hinzugefüg­t, die mit dem Original kommunizie­ren. „So wie hier. Dieses verliebte und sich zärtlich küssende Paar steht eigentlich für sich. Aber Nhobi fiel auf, dass ein Engel mit Amors Pfeil dem Paar noch etwas liebevoll Humorvolle­s hinzufügen kann.“

Man nennt große Wände in Marseille, die die Pseudonyme mehrerer Künstler tragen, inzwischen selbstbewu­sst „Hall of Fame“. „Wall of Fame“wäre treffender. Man kann sich als Betrachter auch selbst ins Bild einfügen. Das offene auf ein grünes Holztor gemalte Herz etwa wird links und rechts von Engelsflüg­eln flankiert. Daneben ist ein Totenkopf zu sehen. Aus dem Schädel sprießen frische Blätter. Oben links lockt ein schönes Gesicht. Jetzt ist die Zeit, sich lebendig zu fühlen.

Auf dem Place de Lenche wiederum macht schon von Weitem eine geheimnisv­olle Figur auf sich aufmerksam. Sie hält schützend ihre Hand unter ein Gitter, das wiederum nicht gemalt, sondern aus Eisen ist. Diesmal ist das riesige Herz blau. Und der Totenschäd­el hat Teufelshör­ner. „Seek 313“, sagt Arnaud und deutet auf ein Werk, auf dem der Alte Hafen, Notre-Dame de la Garde sowie eine freche Möwe und Sardinenfi­scher zu sehen sind. Er scheint gleich aus seinem bunten Boot springen zu wollen. Von hier aus kann man wieder das Meer sehen. Die Deutschen haben 1941 die Südseite weggespren­gt, um freie Sicht auf den Hafen zu haben.

„Der Blick auf das Meer ist schön“, sagt Arnaud. „Aber die Wand fehlt uns natürlich heute.“

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 ?? BILDER: SN/EVA HAMMERER (2), PETER GNAIGER (3) ?? Ein Rundgang durch die Altstadt von Marseille inklusive Konzert von Eric Cantona.
BILDER: SN/EVA HAMMERER (2), PETER GNAIGER (3) Ein Rundgang durch die Altstadt von Marseille inklusive Konzert von Eric Cantona.

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